Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 165.

10]

Tot

Die flucht.

Dienstag, den 23. Auguſt.

( Nachdrud verboten.)

Von K. Bagrynowski.

6.

Der Lehrer Klimperte auf der Guitarre und sang wohl zum hundertstenmal mit heiserer Stimme seine Lieblings­strophe aus einer ortsüblichen Ballade:

Das Schwert blitt und der goldene Knopf ist geneigt, Geneigt der Schwanenbals.

Und ihre Schwanenbrust atmet nicht mehr, Und niemand wird mehr ihr Geliebter sein." Denisoff, der mitsummte, machte schon lange ein schiefes Gesicht. Endlich wurde es ihm zu arg, er zischte: sch! sch! sch! schlug ein andres Tempo an, sprang in die Mitte des Wohn­zimmers und fing an zu hüpfen, zu stampfen, bis der große Teppich aus weißen und schwarzen, wie ein Schachbrett zu­fammengestellten Pferdefellen um und um gezerrt am Boden Tag. Die Frau Lehrer ließ ihn vom Dienstmädchen fortnehmen und verließ das Zimmer nicht, sondern sah lächelnd, hoch gerötet und leicht die Schultern zuckend dem tollen Tanze zu, von dem die Deldruckbilder an den Wänden zitterten, die Gardinen an den Fenstern aufflogen und die kleine, grüne Dellampe, die ewig vor dem Bilde des heiligen Nikolaus in der Ecke brannte, fanft an ihren Silberketter schwankte. Der Lehrer war auch aufgesprungen, schlug die Saiten schneller und begann auf unsicheren Füßen herumzuhopfen. Staub­wolken, Tabaksdunst und der Geruch des verschütteten und ausgetrunkenen Schnapses machte den ferneren Aufenthalt im Bimmer unerträglich. Krassuski stand auf, um sich zu ver­abschieden.

Wohin? Ich laß Sie nicht fort! Sigen geblieben, fizzen geblieben!... Sonst erzähl' ich Ihnen nie wieder was von den Bergen im Westen, oder von den Reisen der Jakuten. Oho! Ich weiß alles, ich durchschau Euch alle! Mich werdet Ihr nicht über's Ohr hau'n!" rief der betrunkene Hausherr und haschte nach dem Aermel seines Gastes.

Aber Krassuski fürchtete eben diese Vertraulichkeiten; er riß sich los und ging fort.

Seit der Lehrer sich in der letzten Zeit ganz auf die Seite der Opposition von Dschurdschni geschlagen und Denisoff tag­lich bei ihm verkehrte, war dem jungen Manne der Umgang mit ihm unerträglich geworden. Er setzte ihn trotzdem fort, denn er hoffte, die Verlosung würde doch noch zu stande zu bringen sein; die andern Hilfsquellen hatten alle versagt. Aber auch die Lehrersfrau, die eigentlich das Regiment im Hause hatte, war seit der Geschichte mit Mußja sehr verändert, fand immer Ausflüchte und schob die Sache hinaus. Krafsuski war fast überzeugt, daß sie nein" sagen würde. Und doch ging er hin. Er ging hin, denn er hatte keinen Glauben an die Flucht, es war ihm schwer ums Herz, die Langeweile plagte ihn, und die Sehnsucht zehrte an ihm. Aber die Anwesenheit Denisoffs und das ewige Trinken verursachten ihm immer Unbehagen. Auch jetzt war es so gewesen: kaum war die Dämmerung angebrochen und schon begannen sie ihre Orgien zu feiern.

So grübelte er, indem er über den nächtlich dunklen See schritt. Auch in seiner Seele war es so falt und dunkel, und Der Gedanke an sein einfames, leeres Stübchen widerte ihn an; aber noch unbehaglicher wurde ihm zu Mute, wenn er an Alexandroffs Jurte dachte, wo er die finsteren, umwölften Gesichter der Kameraden vorfinden würde, die der Mißerfolg zu Boden drückte. Da hörte er das Knarren eines Schlittens vor dem Polizei- Amte und dann Schritte und Stimmen von Menschen, die ihm entgegenkamen. Er ging auf sie zu und beim blaffen Sternenschein erblickte er vier Gestalten. Zwei davon waren Kosaken ; an den Bewegungen und hauptsächlich an den Stimmen der beiden andern erkannte er sofort, daß es die längst erwarteten Ankömmlinge waren. Arkanoff! Endlich!"

Ja, ich heiße Arkanoff. Und wer sind Sie?" Krassusti."

Bum größten Erstaunen der Rosaken fielen sie sich um Sen Hals, als wären sie Brüder, oder hätten sich wenigstens

1904

jahrelang gekannt. Dann grüßte Krassuski schüchtern die andre schlanke Gestalt.

,, Nun, wollen Sie mir nicht die Hand geben?" lachte diese silbern auf. Ich bin auch ein Kamerad."

,, Kommt zu uns... Hier, zu Aleyandroff ist's am nächsten. Oder wollen Sie wo anders hin? Sie sind gewiß hungrig und erfroren?"

Wir wissen ja selbst nicht, wohin wir geführt werden sollen. Auf der Polizei ist kein Mensch. Es ist alles zu." Sie müssen sich beim Isprawnik anmelden," sagte einer der Kosaken .

"

Aber wozu denn? Wir benachrichtigen ihn schriftlich, daß Sie sich morgen melden wollen, daß Sie müde sind von der Reise. Das ist doch einerlei. Wozu die Förmlichkeit!" Es blieb dabei, daß die Kosaken zum Jsprawnik gingen und die andern auf Alexandroffs Hütte zusteuerten.

Unterwegs schickte Krassusti einen Jafuten nach Samuel und Woronin. Kaum war eine halbe Stunde vergangen, als sich alle, Jan mit inbegriffen, in der Jurte zusammengefunden hatten. Das große Feuer auf dem Herde erfüllte den Raum mit Zischen, Knistern und einem fröhlichen, hellen Licht; der kochende Samowar dampfte auf dem Tische. Frau Arkanoff hatte sofort die Rolle der Wirtin übernommen; sie legte ein weißes Wischtuch über die Schulter und wischte die Theetassen ab. Seit sie die Heimat verlassen, fiel es den Verbannten zum erstenmal ein, daß sie das immer versäumt hatten. Kerker und Elend hatten ihnen vieles abgewöhnt, Schmutz und Ver wahrlosung waren zu Gewohnheiten geworden. Jetzt brachte die schlanke Frauengestalt mit dem goldenen Haar und den dunkelblauen Augen etwas wie den Duft der längst hinter ihnen gebliebenen Civilisation in ihren Kreis. Jeder ver fuchte zu den früheren Formen zurückzukehren. Alexandroff hielt sich ungewöhnlich grade, stügte die Elbogen lange nicht auf den Tisch und hatte sogar seine Pfeife in die Tasche gesteckt. Nieborski war plötzlich traurig geworden. Woronin bemühte sich, die Erregung zu verbergen, die der Anblick der un gewöhnlich zahlreichen für alle langenden" filbernen Löffel, Gabeln und Messer in ihm hervorrief.

"

Servietten!" flüsterte Samuel, der sich nicht länger be­herrschen konnte, und berührte sie mit der Hand.

Die schöne, feine Frau legte das alles auf dem Tische zu­recht und blickte die blutleeren Gefichter, die abgerissenen, rauhen Gestalten der Verbannten mit wehmütigem Lächeln an. Krassusti saß im Schatten und ließ kein Auge von ihr. Also es ist nicht möglich, anders zu wohnen, als in einer Jurte? Giebt es feine Wohnungen, die menschenwürdiger find? Ich habe doch im Vorbeifahren Häuser gesehen."

" Jawohl, es giebt welche; aber dann müßte man das ganze Haus mieten, und dazu sind unsre Geldbeutel zu flein. Einzelne Zimmer giebt's nicht. Uebrigens wird Ihnen Tscherewin darüber die beste Auskunft geben können."

"

Wer ist denn das?"

,, Auch einer von den unsern- ein Arzt. Er ist nicht gekommen, man müßte ihn holen lassen."

Aber ehe sich ein Jakut gefunden hatte, der bereit war, einen Brief hinzubringen, fam Tscherewin von selbst, unter­brach die Unterhaltung, ohne viel Umstände zu machen, und ließ sich die schon erzählten Neuigkeiten wiederholen.

Seit 1878," begann Arkanoff mit unnatürlicher, ge­langweilter Stimme, hat die russische revolutionäre Partei bekanntlich ganz neue Bahnen eingeschlagen. Die Volks. tümler" sind nach kurzem Kampfe verschwunden. Die Schwächeren sind ganz zurückgetreten und gewöhnliche Bourgeois geworden, die Tüchtigeren haben sich in Terroristen verwandelt. Augenblicklich giebt's nur noch Terroristen in Rußland , eine andre Partei eriſtiert nicht."

" Oho!" bemerkte Pjetroff.

" Die Terroristen zerfallen in drei Lager: die kon ftitutionellen Terroristen, die unversöhnlichen" pur sang". Terroristen und die volkstümelnden Terroristen. Die letzteren sind aus den Ueberresten der Buntar"*)- Partei hervor.

gegangen.

*) Die Buntar"-Partei behauptete, in der Gesellschaft lebe das socialistische Ideal in latentem Zustande und seiner Ber wirklichung ständen nur äußere Umstände im Wege, die durch wiederholte Aufstände( Bunt) wegzuschaffen seien.