Unterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 212.

1]

Donnerstag, den 27. Oktober.

( Nachdruck verboten.)

Der Alte vom Berge.

Roman von Grazia Deledda  . Autorisierte Uebersetzung aus dem Italienischen  von E. Müller.

1.

1904

Köpfe in den schweren, schwarzen Säcken steckten; jener Kinder, die von der großen Last gebeugt bergab gingen, die schwarzen Händchen herabhängend, den Kopf hintenüber gezogen von dem Seil, das den Sack hielt, Augen und Mund weit offenstehend vor Hize und Anstrengung. Weiber und Kinder schritten be­hutsam und schweigend abwärts, mit roten, schweißbedeckten Gesichtern und Augen, die von einem schmerzhaft bösen Traume umflort schienen. Den Hirten, der ruhig zu Pferde saß, beneideten sie, und zeigten ihm dies, indem sie ihm rauh Er war ein blondhaariger, junger Hirt, von kleinem auriefen, auszuweichen, ihn verwünschten und sein Pferd Wuchs, mit braunen Augen und blaffem Gesicht. Eine Furche reizten. stand zwischen den dichten, dunklen Brauen, die sich scharf ab­Die beiden letzten blieben stehen und sagten, boshaft hoben von dem gelben Antlitz mit der niedrigen Stirn. Er lachend: trug murefische*) Kleidung mit dem ärmellosen, ledernen Wams.

Melchior Carta ritt bergan nach Hause.

Auch das Pferdchen des Hirten war fahl, gedrungen, eckig und nachdenklich wie sein Herr: sie schienen für einander geschaffen.

Melchior war ein junger Mensch von bestem Ruf. Aber feit einiger Zeit war er düster; er fühlte sich unglücklich, weil feine Base Pasta ihm furz vor der Hochzeit den Abschied ge­geben hatte. Einen Grund hierfür gab es nicht; nur hatte Baska plötzlich bemerkt, daß sie schön sei, und daß auch junge Herren es nicht verschmähten, ihr den Hof zu machen.

Das Pferdchen kletterte vorsichtig aufwärts und schüttelte den durch den Zügel hochgehaltenen Kopf. Der steinige Ab­hang des Berges, auf dem aromatische Sträuter starken Duff verbreiteten, gewährte weiten Ausblick auf Nuoro   und ein ganzes Panorama wilder Täler und ferner Berge; dann führte der Weg in einen Wald von Steineichen.

Der Augustmorgen war wundervoll klar; da es am Tage vorher geregnet hatte, war es im Walde frisch und angenehm. Die Farne und Gräser, die feuchten Stämme und Felsen hauchten einen starken Duft aus; eine leichte Brise goß filberne Lichter über das Laub der Steineichen, und der tiefblaue Himmel lachte wie ein See durch das Gezweig. Doch Melchior blieb traurig und düster trotz aller Lieblichkeit des Himmels und des Waldes. Ueber sich hörte er undeutlich sprechen und lachen: Frauen, die des Weges kamen. Er glaubte das frische, flangvolle Lachen seiner Base zu erkennen und knirschte vor 3orn.

Sie ist es wirklich! Und sie lacht! dachte er plötzlich, hielt sein Pferd an und lauschte.

Die Stimmen entfernten sich, das Lachen verklang gleich einem Echo. Sie war es wohl doch nicht! Melchior atmete auf und trieb sein Pferd an. Und das Pferd stieg höher und höher hinauf, rhythmisch die Kruppe hebend und langfam den Schweif gegen die knochigen Flanken schlagend.

Aufwärts über felsige Hänge, die der Wind von Blättern fahl gefegt; zwischen den mächtigen, schlangengleich ge­wundenen Wurzeln der Steineichen erflang der Schritt des Pferdes, und der blanke Huf schlug Funken aus dem Granit. Dann ging es über Lichtungen, an deren Rande einzelne Bäume ihre Aeste weit über flare Tiefen hinausstreckten. Die aufgetürmten Felsen sahen manchmal aus wie Sphinre, welche die stille Einsamkeit bewachten; andere Blöcke erschienen wie von Riesenhänden zu Altären und Grabmälern geformt: und das Volf glaubt, daß in ungekannten Zeitfernen Riesen die Felsen des Orthobene übereinandertürmten und die Gipfel auszadten, durch die der blaue Himmel lacht.

Nach den Lichtungen wiederum Wald: feuchte Fußpfade, Kleine Rinnsale, Binsengeruch und von den Herden zertretene Gräser; und überall Schatten, zitternde Lichtarabesten, Elster­ruf, der Schlag einer Art, zwei-, drei-, viermal vom Echo wiederholt. Und dann noch ein Aufstieg, aber sanft, auf weichen, frischen Farnen.

Nachdem er auch den Wald hinter sich gelassen, traf der Hirt auf einige Frauen und Kinder, die, mit Kohlensäcken be­laden, abwärts stiegen. Er hielt sein Pferd an, um sie vorüber­zulassen. Dort wand der Pfad sich zwischen kahlen Felsen, und die Sonne brannte schon heiß auf den steinigen, baumlosen Ort.

Geht's nach Hause, Melchior Carta?" Es scheint!"

etwas Schönes begegnen. ,, Wenn Du Dein Pferd ein wenig antreibst, wird Dir

"

" Ich will niemand begegnen," sagte er rauh. Aber er fühlte, wie ihm das Herz schlug.

" Ist sie es doch?" dachte er und hatte Lust, sein Pferd wirklich anzutreiben; doch bald rente es ihn und er schämte sich seines Verlangens. bei seinem Sade fest und sagten zu ihm: Rufe einmal: Viele Die Weiber setzten ihren Weg fort, hielten einen Burschen Grüße an Paska Carta!

Der Junge kehrte sein Gesicht gegen die Sonne, hielt die Hände an den Mund und schrie:

,, Faccia di Volpa, ohe, viele Grüße an Paska Carta!" Das brachte Melchior vollends auf. Dennoch wandte er sich nicht um und gab keine Antwort. Er gelangte zu einer Quelle. Große Steineichen beschatteten den von lichten, zarten Gräsern bedeckten Platz; neben der in rohes Gestein gefaßten Quelle erblickte er Spuren eines Mahles: einen schwarzen led, auf dem ein Feuer gebrannt hatte, welke Farne und ringsherum Steine, die als Site gedient hatten und noch zu stummem Gelage versammelt schienen; daneben Ueberreste von Früchten und allerlei Scherben.

Ganz klein erschien der Hirt und sein Pferd in der feier­lichen Einsamkeit der bewegungslosen, mächtigen Bäume und den unbegrenzten, blauen Fernen.

Melchior stieg ab und ging zur Quelle, sein Pferd am Bügel führend. Er kniete auf die Steine hin, schob seine Müze in den Nacken, beugte sich über sein Spiegelbild und trank in langen Zügen. Mit tropfendem Barte erhob er sich, rückte die Mütze zurecht und ließ dann auch sein Pferd aus der Quelle trinken, statt aus dem zum Tränken der Tiere besonders an gebrachten Becken.

Während das Pferd trant, schaute er sich mißtrauisch um; er empfand eine hämische Freude darüber, daß das Wasser durch das Tier getrübt wurde. Die Quelle war erst wenige Tage zuvor gereinigt worden zum Gebrauch für einige Familien, die in dem Kirchlein auf dem Gipfel des Berges ihre Novena*) abhielten. Basta diente in einer dieser Familien und stieg täglich, die Amphora aus rotem Ton auf dem Kopfe, zu der Quelle hinab, um Wasser zu schöpfen; dahin sogar liefen ihr ihre Anbeter nach.

Mochte also das Pferd trinken und das schöne, klare Wasser trüben, ja beschmutzen, wie jene Herrchen des Hirten Seele vergiftet hatten.

Ja, mochte es trinken! In einem Anfall von Zorn, der feinen Augen einen gelben Glanz verlieh, erfaßte er ein, zwei, drei Felsstücke, die unten schwarz von Schlamm waren, und warf fie in die Quelle. Das Wasser gurgelte, spritte hoch auf und lief über.

Er ergriff die Zügel, stieg schnell auf und ritt davon. Alles lag wieder in ernstem Schweigen wie zuvor; mur das Wasser blieb trübe. Melchior stieg höher hinauf, Grimm im Herzen. Kein Laut außer dem Gefnister trockener Blätter und Zweige, die der Huf des Pferdes zertrat, erreichte ihn. Hier und da hob sich von den dunklen Stämmen das Skelett einer geschälten Eiche ab, deren Aeste in einem traurigen Grau grün dahinwelften.

Der Berg erschien plößlich vereinsamt, ein passender An einem bestimmten Punkte hielt er an; seine Behausung Hintergrund für die Gestalten jener barfüßigen Frauen, deren lag nach Morgen, abseits von dem Kirchlein, an dem er nicht

*), Nuoro  , Städtchen unweit der Ostküste Sardiniens  .

*) Neuntägige Andacht zu Ehren der Madonna.