Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 215.
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Dienstag, den 1. November.
1904
Esisio! Leo!" Die näselnde Stimme wurde so drohend, ( Nachdrud verboten.) daß der Hund mit eingefniffenem Schwanze fortschlich und der Knabe innehielt.
III.
Melchior überschritt leichtfüßig und schnell die Lichtung. Nahe dem zur Kirche führenden Fußpfad stellte er sich hinter den gegabelten Stamm einer Steineiche, der ihn verbarg und ihm doch ermöglichte, alles vor ihm zu sehen.
Ein großes Feuer erleuchtete den Platz, und fast alle Noveanten waren um dasselbe versammelt. Ein fleiner, Schwarzer Hund mit glänzendem Messinghalsband bellte Melchior an und machte Miene, auf ihn loszuspringen. Er fehrte sich zu ihm, sagte ganz leise:" Warte, Du Schuft!" und hob die Hand gegen ihn auf. Der Hund machte sich fort und
eine näselnde Stimme rief:„ Sierher, Leo!"
Niemand hatte den Lauscher bemerkt. Er aber übersah aus seinem Versteck ein phantastisches Bild, das sich in roten Lichtern und Halbschatten von dem nachtschwarzen Hintergrunde abhob. Aus dem mächtigen Feuer von fnisternden Stämmen und Aesten, deren Laub noch nicht verbrannt war, sondern in seltsamen Formen glühte, schlugen die Flammen hoch auf und warfen leuchtende Streiflichter über die unteren Partien der umstehenden Bäume und die Gestalten, welche sich auf dem Boden, den Steinen oder an die Stämme gelehnt, gruppiert hatten.
Der Wald glich einem phantastischen, von gewundenen Säulen getragenen, mächtigen Bau. Lange Schatten werfend, sprangen in dem roten Lichttreis einige Knaben umber, die mit Stöden und Zweigen das Feuer schürten.
Melchior erkannte den Kleinen, der Heuschrecken gefangen hatte und jetzt mit einem belaubten Aste lustig am Feuer hantierte. Fröhliches Lachen, Rufen und Singen verlor sich mit dem Flammenschein im dunklen Hintergrund des Waldes. Von dem seltsamen Schauspiel angezogen, dessen bunte Fröhlichkeit ihm gefiel, wurde Melchior anfänglich von seinem Zwecke abgelenkt. Ein leichter Wind, der rauschend durch die Bäume fuhr, traf seinen Rücken, während die Glut ihm ins Gesicht schien.
Mehrere Damen, mit seidenen Tüchern oder Shawls um den Kopf, saßen auf einem umgestürzten Baumstamme; die eine schlummerte nickend, eine andere träumte fofett vor sich hin. Auf dem Rasen und auf Steinen saßen einige Bäuerinnen mit Kindern auf dem Schoße: die Männer lagen zum Teil auf dem Boden ausgestreckt. Einige Buben hockten mit herabhängenden bloßen Beinen auf den nächsten Zweigen oder Gabelungen der Bäume. Beim Feuer stehend, stimmte ein junger Mann seine Flöte und schien alles andere umber vergessen zu haben.
Melchior horchte aufmerksam auf die Flötentöne und folgte mit den Augen den Bewegungen der roten Hände des Spielers. Er empfand Geringschätzung und zornigen Aerger, da er der am Nachmittag gehörten fernen Melodien gedachte und der Anwandlung von Eifersucht, welche diese ihm verursacht. War das derselbe Flötenbläser? Dieser fleine, magere, junge Mensch mit den dünnen, schwarzen Haaren und großen, roten Ohren, mit dem spärlichen, stachlichen Bärtchen am Kinn? Der mit seinen lächerlich aufgepusteten Backen hatte ihm für den ganzen Abend das Herz vergiften können?
Plötzlich aber berließ ihn die Neugier, welche das nächtliche Bild in ihm erregt hatte: Wo ist Pasta? stöhnte sein Herz. Seine Augen flammten auf und wanderten von der einen der am Boden sizenden Bäuerinnen zur anderen, bis zu den schwach beleuchteten Gestalten hinauf, die still auf den an der Kirchenmauer stehenden Bänken saßen.
Baska war nicht zu sehen! Das erleichterte ihn, doch er rührte sich nicht.
"
Esisio!" rief die näselnde Stimme, die vorhin den Sund angerufen hatte, höre jetzt einmal auf mit dem Zweige und wirf ihn ins Feuer!"
Der Knabe fuchtelte aber weiter mit dem Zweige und der Hund umsprang ihn bellend.
,, Welch ein Rauch!" flagte eine junge Dame.
Auch die Schläferin war aufgewacht und sagte:
,, Esisio, wirf den Zweig ins Feuer!"
Der Knabe gehorchte widerwillig. Die Flamme schlug höher auf, zischte und sprühte.
Und Paska war nicht zu sehen! Sollte sie auch heute abend wieder nach Nuoro hinabgegangen sein?
Melchior fing an, sich zu langweilen und fühlte eine gewisse Verachtung für alle die Leute, die ihre Zeit so töricht verbrachten. Durch Paskas Abwesenheit beruhigt, war er im Begriffe, fortzugehen, als die Szene sich auf einmal änderte. Eine junge Dame hatte ein Taschentuch fest zusammengewickelt und es plötzlich einem jungen Manne ins Gesicht geworfen, indem sie ihm zurief:„ Ein Schiff ist angekommen, beladen mit Der junge Mann stand in sich versunken da und rauchte
aus einer Tonpfeife; als das weiche Geschoß ihn traf, fuhr er zusammen und erweckte dadurch großes Gelächter. Doch er hatte die Geistesgegenwart, das Tuch auf den Hals der jungen Träumerin zu werfen und zu antworten: Mit Unverschämten! Ein Schiff ist angekommen, beladen mit...
."
Die Träumerin zuckte zusammen, fing das Tuch auf, wußte aber nicht gleich zu antworten. Doch das beliebte Spiel hatte angefangen und das Tuch flog hin und her, bald Lachen, bald Merger verursachend.
Alle nahmen daran teil, nur einige Männer standen bei. sammen und sprachen über Politik.
Da flog das Tuch auf den Mann mit der näselnden Stimme zu; er fing es auf, rief aber:" Unmöglich! Ich bin außer Spiel." „ Ein Pfand! Ein Pfand!"
" 1
Crispi? Nun, ich hätte ihn damals am Ruder ge
lassen Grispis? dachte Melchior, das war ja der, der die Steuern erhöht hat! Nun, heute oder morgen wird schon ein Sarde nach Rom gehen und ihn mit der Sense niederhauen.
„ Ein Pfand! Geben Sie mir den kleinen Ring da!" „ Ach! dürfte ich ihn Ihnen eines Tages vor dem Altar reichen," sagte der junge Flötenspieler galant, streifte mit zwei Fingern den aus einem gebogenen Hufnagel bestehenden Republikanerring ab und legte ihn in die rosige Hand, die sich ihm entgegenstreckte.
„ Paska!" ertönte es plötzlich.„ Ein Schiff, beladen mit Bastas. Viva Paska, Viva!"
Melchior kehrte sich von der Politik weg und erhob die brennenden Augen. Paska war wirklich erschienen und stand vor dem Feuer, klein und zierlich; die weißen Hemdärmel waren aufgerollt und die Zipfel des schwarzen Kopftuches zurückgeschlagen; sie suchte mit den Augen einen Play zum
Sitzen.
,, Komm' her, komm' doch her, mein Lämmchen," lud der Flötenspieler ein. Komm' und setze Dich an meine Seite."
„ Das Messer an Ihre Seite!" antwortete fie; doch ihre Stimme war so sanft, ihr Lachen so fröhlich, daß Melchior einen Stich im Herzen fühlte und die Faust an die Lippen führte, als ob er beißen möchte. Er dachte:
Was hält mich noch, was hält mich, Du Fraz, Du verdaminte Seele! Hast Honig im Munde und eine Schlange im Herzen!"
Sie schaute rings umher, lässig und gefällig, wohl wissend, daß sie betrachtet und bewundert wurde wenn auch nicht gerade mit Hochachtung.
Das nach Damenart von der elfenbeinweißen Stirn zurückgefämmte, glänzend braune Haar schimmerte in rotgoldenen Lichtern, auf dem kunstvoll gefältelten Hemd spielten bläuliche Schatten.
Als sie ihren Platz gewählt hatte, überschritt sie keď und leicht wie eine junge Gazelle den ganzen von der Flamme hell beleuchteten Raum und schwang sich, recht zur Schau, geschmeidig auf einen vorragenden Felsen. Von da aus beherrschte sie mit ihren langbewimperten, strahlenden, braunen Augen die ganze Szene. Man warf ihr sogleich das Tuch zu