Anterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 218.
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Freitag, den 4. November.
( Nachdruck verboten.)
Der Alte vom Berge.
,, Es ist kein Scherz, Zio Pre, ich glaube wirklich, ich habe sie gesehen. Sie ist flein, nicht wahr? Hat ein rofig helles Gesicht und schwarze, glänzende Augen, nicht wahr? Sie stand da bei dem Hündchen, doch als sie Euch sah, hat sie sich fortgemacht."
Vorwärts! Es ist nicht wahr," rief der Alte, der wohl merkte, daß Basilio log. Sie gingen weiter. Doch Basilio blickte mur nach dem Hunde hin, den er an sich zu locken verfuchte; so achtete er nicht mehr auf den Weg, und obschon der Alte mit seinem Stock den Boden betastete, stolperte er häufig. ,, Die Messe hat schon angefangen; man hört kein Läuten mehr. Weiter, Du alberner Junge, und laß den Hund in Ruhe. Siehst Du niemand?"
Auch nicht ein Bein von einem lebendigen Christenmenschen. Ach, wie schön ist das Hündchen, und es hat ein goldenes Halsband mit einem Glöckchen daran. Hört doch, Zio Pietro... Drin, drin, drin... Wenn ich allein wäre, dann nähme ich ihn mir mit."
,, Bravo ! Und wir sind auf dem Wege zur Kirche!" " Was ist denn dabei? Ich würde ihn mit dem Hasen
zuſammentun."
"
,, Man sollt's nicht glauben, daß Du noch so findisch bist!" fagte Zio Pietro. Doch nach einer Weile fragte er: Wo hast Du ihn gelassen?"
" Wen Den Hasen? O," sagte Basilio, schlau lächelnd, da er an das in einer hohlen Eiche verborgene Tierchen dachte, ich habe ihn irgendwo gelassen, wo ihn niemand finden kann, nicht einmal die Heren. Ich allein weiß es."
Wo denn?"
" Wenn ich es Euch sage, so wißt auch Ihr es, und dann nehmt Ihr ihn mir eines Tages fort, bratet ihn und sagt dann, er wäre fortgelaufen."
,, Damit hat es teine Gefahr," sagte Zio Pietro traurig. Inzwischen waren sie angelangt; nach einem kleinen Aufstieg traf er mit seinem ausgestreckten Stock auf eine Mauer und sein scharfer Geruch verspürte den Duft des frischen Kaffees und den feuchten Dunst der Laubhütten.
" Das Hündchen folgt uns," sagte Bafilio, sich umschauend, aber es will nicht herankommen. Warum kommst Du nicht, Schelm? Gebt mir einmal Euren Stock, Zio Pietro."
" Laß ihn in Ruhe," sagte der Alte ärgerlich und hielt feinen Stock fest. Da der Hund laut bellte, kam aus einer der Türen der kleine Efisio heraus, hielt die Hand gegen die Sonne und blickte auf und ab.
,, Leo, hierher, Leo!"
„ Leo, hierher, Leo!" machte Bafilio ihm spöttisch nach. Gehört der Hund Dir, Junge?"
" sa, er gehört mir, und nicht Dir!" rief Efisio böse. „ Wenn Du schreist, so werde ich ihn prügeln, bis er frepiert."
" Du? Das versuche nur! Dann rufe ich Papa!" ,, Und wenn Du Deinen Papa rufst," sagte Basilio lachend und fügte ein derbes, sardisches Schimpfwort hinzu. " Jetzt hört es aber auf," ermahnte Zio Pietro weitergehend.
Der Knabe streckte die Zunge heraus und Bafilio drohte ihm mit der Faust; sobald er den Alten in die Kirche geführt hatte, kehrte er zurück, um den Streit fortzusetzen.
Bio Pietro fniete auf den Boden hin und stützte einen Arm auf den längs der Mauer hinlaufenden Sig. Die wenigen Leute, welche der Messe beiwohnten, kehrten sich um und betrachteten ihn; das fühlte er und es verursachte ihm Traurigkeit, Verwirrung und tiefe Rührung. Sein Herz schlug heftig, aber das dem Altar zugewendete Geficht blieb ruhig.
Ob wohl Pasta hier war, in der halbdunkeln, fühlen Kirche? Er hatte gehofft, wenn sie ihn sähe, würde sie aufstehen und zu ihm kommen, um ihn zu begrüßen. Von den Vorfällen der letzten Nacht wußte er ja nichts, und er war ohne Melchiors Wissen gekommen, um noch einmal zur Madonna zu beten und womöglich mit Paska zu sprechen.
Aber sie kam nicht. Vielleicht wagte sie nicht aufzustehen, vielleicht war sie auch gar nicht da. Das alte Herz schlug wieder
1904
regelmäßig und ging langsam seinen dunkeln, traurigen Weg weiter; alle seine Gedanken stiegen zu der kleinen Madonna auf, deren rosig glänzendes Gesichtchen übergossen war von dem durch das Portal eindringenden hellen Licht.
Die Weiber sangen mit eintöniger Stimme Psalmen. Der rhythmische Tonfall erweckte in Zio Pietro die Erinnerung an alle Einzelheiten der früher gehörten Messen; er sah im Geiste auch den leuchtenden Hintergrund der Kirchentür und dahinter eine ferne Bergkuppe; die knienden Frauen in ihren helleren oder dunkleren roten Miedern; am Altar den bloßen Kopf eines Bauern mit langen, in 3öpfe geflochtenen Haaren; und den Priester, der mit erhobenen Händen hin und her ging, die Tunika von zweifelhafter Weiße so hoch geschürzt, daß der Saum seiner schwarzen Beinkleider hervorsah. Nach der Litanei intonierten die Andächtigen die gosos*) zweistimmig, doch stets mit monotoner, melancholischer Kadenz, in der gleichsam das friedliche Rauschen des Waldes erklang; nur war dieser Klang trauriger, einsamer, wie von verborgenem Heimweh erfüllt.
Zio Pietro erschauerte leicht; ein Strom von zärtlichen und wehmütigen Erinnerungen überflutete sein Herz. Auf seinen Stock gestützt erhob er sich, setzte sich auf die Bank und vereinte seine Stimme mit den anderen.
Knaben und Männern, so laut, daß die einzelnen Worte sich Beim Schlußvers erklangen auch die Stimmen von verloren; doch Zio Pietro wußte die gosos auswendig, und jeder Vers, den er mitsang, ging ihm tief zu Herzen. Imploranos, de su Monte Reina, s'eterna vite.**)
Das letzte Ritornell wurde zweimal wiederholt; schärfer erklangen die Kinderstimmen und endeten in einem furzen rauhen Schrei: dann plößlich tiefe Stille und Zio Pietro kniete nieder für den Segen. Die Arme auf die Bank gestützt, barg er das Gesicht in den Händen, wartete und fing an sich zu beunruhigen. Er hörte die Leute fortgehen, die Kinder und Männer vom Altar herabsteigen; zu ihm fam niemand, niemand achtete auf ihn. Sie war also nicht da? Er wartete noch immer, bis die Kirche ganz einsam war; er hörte noch das rauhe Husten einer Alten, den leichten Schritt eines barfüßigen Kindes; dann nichts mehr. Da merkte er, daß auch Basilio ihn verlassen hatte, und empfand eine schwere Traurigkeit, ein schmerzliches Gefühl von Demütigung und Schwäche. Seine Lippen beteten noch, aber seine Seele war falt und leer, wie die alte Kirche, in der sein Beten sich verlor. Dann hörte er, wie Basilio auf den Fußspitzen eintrat, den Atem anhielt und hinter ihn trat.
" Bio Pietro," sagte er und faßte ihn an dem Arm ,,, sollen wir gehen? Es ist niemand mehr hier." Und wo warst Du?"
ch? Hier, Zio Pietro."
„ Das ist nicht wahr! Lügst Du auch in der Kirche? Du hast die heilige Messe nicht gehört. Knie nieder! Sofort!" Er faßte ihn und zwang ihn niederzufnien; als er ihn seufzen und mit leiser Stimme inbrünstig beten hörte, verzieh er ihm.
Zio Pietro, was für schöne Blumen auf dem Altar! Sind es wirkliche? Darf ich hingehen und sie besehen?"
Der alte Mann überlegte, und da er dachte, daß Basilio das auch ohne seine Erlaubnis tun konnte, hielt er es für besser, ihm diese zu geben.
„ Gehe nur, aber rühre nichts an."
Doch nachdem er gehört, wie Basilio leichtfäßig zum Altar hinaufgestiegen war, bernahm er auf diesem ein leichtes Klirren, als ob die Vasen fortgeschoben würden. Gleich war der Knabe wieder an seiner Seite.
"
Was hast Du getan? Hast Du etwas angefaßt?" ,, Nichts, Zio Pietro. Gehen wir jetzt."
Er zog ihn mit sich und sie gingen.
An der Tür einer der Hütten stand Pasta und erblickte plötzlich die Gestalt ihres Onkels. Aus Furcht vor einer neuen Begegnung mit Melchior war sie nicht, wie gewohnt, zur Stadt hinuntergegangen, um Lebensmittel zu holen; da sie in angenehmer Gesellschaft an der Quelle gewesen war, hatte sie
Bittgefang.
**) Königin vom Berge, erbitte uns das ewige Leben!