— 950—Lrang, den der Dreimalheilige in die Brust eines jeden Lebe-Wesens gesenkt hat: dem Trieb nach Fortpflanzung und Un-sterblichkeit.An meinem Konfirmationstage trug ich ein schwarz-seidenes Schleppgewand mit offenen, spitzenunterlegtenAermeln, das aus einem Anzug meiner verstorbenen Schwesterfür mich zurecht geschneidert worden war. Das Haar hatteich in Locken aufgesteckt, in denen ein goldener Kamm prangteund eine lila Schleife. Durch fusztiefen Schmutz stieg ich denHügel hinan, auf dem das weiße Kirchlein stand, das denSchiffern als Wahrzeichen dient bei Nebel und Sturm. MeineMutter hatte sich soweit erholt, daß sie an meinem Ehrentageanwesend sein konnte. Sie saß im Pastorengestiihl und sahmit Tranen m ihren lieben erblicheneu Augen zu mir herüber.""X Vs" �Sr/r'�N'TnQlten Kirchenfenster,und alle Gipspuppen auf dem Altare lachten mu.Mein Vormund gab mir einen Segensspruch ins Lebenmit:»Tie Du verloren hast, sie schauen auf Dich nieder.Sei immer fromm und gut, so siehst Tu sie einst wieder."Fühlst Du seinen Segen über meinem Haupte. Liebling?Er war ein guter Mensch, dessen Segen mich durch harte undbittere Kämpfe geleitet hat— bis zu Dir!In Dir Hab' ich alles wiedergefunden, was ich verlorenhatte.Und nun soll niemand mehr mich segneu, denn Du allein.Nach der Konfirmation zog ich das Seidenkleid aus undlegte das Warpkleid wieder an. Und stand, ein vierzehn-jähriges Kind, dem Leben wehrlos gegenüber.Als erster Feind hat mich der Typhus dann gepackt.Den Keim zu der tückischen Krankheit hatte ich mir wohlau Mariens Krankenlager geholt. Zum Ausbruch ist sie durcheine rasende Fahrt gekommen, die ich mit Marie vom Belle-garder Bahnhos nach Lenzburg machte.Die Pferde scheuten vor der Eisenbahn. Von einerStraßenseite zur anderen, von dem einen erleuchteten Fensterzum gegenüberliegenden prallend, rissen die flüchtigen Tiereden alten Kutschwagen wie ein schwankendes Boot mit sichfort. Marie wollte in ihrer Todesangst aus dem Wagenschlagspringen, und nur mit Anstrengung all' meiner Kräfte erreichteich's, ihren Arm herunterzudrücken und das Aufreißen der Türzu verhindern. Der Kutscher lag weit zurück im Wagen, umdie Pferde an der Leine halten zu können. Lichter huschtenvorüber, auf der Straße schrieen die Leute. Und weiter, immerweiter ging es, bis in die starrende Finsternis....Ich drückte die Widerstrebende mit eisernem Arm tief indie Wagenpolster hinein.Dann kam ein heftiger Ruck, der Kutscher richtete sichempor.Ein Soldat hatte die Zügel gefaßt. Der Huf des einenPferdes hatte ihn hart getroffen. Doch er stand wie ein Mann.Und schweißbedeckt, zitternd und schnaufend standen die Tierestill.Ich gab Marie aus meinen Armen frei. Mit irren Augenblickte die Verängstigte um sich.Von meinem Aermel hingen die Fetzen herab, das Blutfloß in schweren Tropfen nieder. Am anderen Tage hatte ichFieber, am dritten Tage konstatierte Dr. Albrecht den Ausbruchdes Typhus bei mir.Er war auch mein Arzt.Als ich aufstand von einem wochenlangen Krankenlager,hatte ich das selige Bewußtsein, daß ich ihm mein Leben dankte.Dann kam der Winter, inild und weich wie selten einer. Amheiligen Abend holte ich die schlanke blaue Tanne, die Vaternoch gepflanzt, als Christbaum in die Stube. Und in denWeihnachtstageu blühten auf dem Rondel vor dem Pfarrhausedie Schneeglöckchen.Einen Schneeglöckchenstrauß habe ich als letzten Heimat-grüß in das neue Leben mitgenommen.Tie Wahrheit soll ich Dir schreiben— auch in der kleinstenEinzelheit? Unbedeutend sei Dir nichts?!— O Du, die Wahr-heit ist so traurig und brutal.Meine Mutter hatte eine Witwenpension von 113 Talernjährlich. Für mich erhielt sie 108 Mark Erziehungsgelder.Als ihr dieses Geld ein Jahr lang ausgezahlt war, stelltesich heraus, daß ich bereits konfirmiert gewesen war, als wirunser neues Heim in Bellegarde bezogen hatten. Und meineMutter nuißte die 108 Mark an die Behörde wieder zurück-zahlen.Jetzt konnte ich für mich selber sorgen. Erzogenwar ich.Schwach und bleichsüchtig, wie ich war, Hab' ich's mitder Erteilung von Privatstunden versucht. Meiner erstenSchülerin mußte ich bei Erlernung der französischen Sprachebchülflich sein. Sie besuchte die erste Klasse der Töchterschuleund war fünfzehn Jahre alt.Und als ich dann den ersten selbstverdienten Taler erhielt— o du seliger Tag! Ich drehte das Silberstück um und umin der Hand, besah es von rechts und von links. Das BildnisFriedrich Wilhelms IV. war darauf. Die Jahreszahl habeich vergessen. Ich brachte den Taler meiner Mutter.Das war mein Lohn für acht Stunden der Qual. Füracht Stunden des Klarmachens und Einpaukens, währenddraußen die Maiensonne glühte mm w*Und neben den Privatstunden, die ich erteilte, nahm ichsolche bei einer dortig-" Leyrerm. Franzopsch und englisch�„stu uoertrug ich in deutsche Jamben. AuchRechenstundeii erhielt ich bei einem Elementarlehrer an derBürgerschule. Ich war für eine Freistelle in der Handelsschuledes Heimathauses für„Töchter höherer Stände" in Berlinnotiert.Lehrerin wäre ich lieber geworden. Aber Dr. Albrechterklärte, das Unterrichten würde mein sicherer Tod sein. Undmeine Mutter, die drei Kinder an der Schwindsucht verlorenhatte, hätte mich auf diesen ärztlichen Entscheid hin niemalsauf das Seminar gehen lassen.O diese Jahre, Liebling: so bitter und so süß! Albrechtging fast täglich bei uns ein und aus, und meine kindlichschwärmerische Neigung umflocht sein dunkles Haupt mit einemsonnigen Heiligenschein....Heute, in Deinem Lichte geschaut, erscheint er mir derfade Durchschnittsmensch, der er in Wirklichkeit gewesen ist.Damals war er für mich der Stern, der meine Blicke über dasalltägliche Treiben hinaus erhob.Du, mit fünfzehn Jahren bin ich hübsch gewesen, glaubstDu's? Heut' weiß ich es. Damals kam ich mir entsetzlichhäßlich vor, weil ich kein Puppengesicht hatte; und ich habeunter dieser Vorstellung sehr hart gelitten.Meine arme Mutter hat schwere Tage damals durch-gemacht. Sie hat gerungen, gesorgt und geschafft, um es zuermöglichen, daß einige Strahlen der Jugendfreude auf meinenWeg fielen.Und nicht die geringste Molle bei all' den Entbehrungen,die wir uns auferlegen mußten, hat damals schon der Gedankegespielt:„Wenn sie eine gute Partie machte!"---(Fortsetzung folgt.)Oer Volks lcbiilraiirn.Musteraufsatz von Fritz Stuß, königlichpreußischem Ministersohn.Ich besuche mit Gottes Segen die Volksschule nicht. Papa istMinister der Volksschule. Aber Mama sagt immer: Was dieDienstboten kochen, können die Herrschasten essen, was aber dieHerrschaften kochen, ist nur gut für die Dienstboten. Darum geheich nicht in die Schule, die Papa macht. Kinder von Ministemkönnen sie nicht vertragen. Sie ist für das Volk da; deshalb heißtsie auch Volksschule. Aber Papa hat mir gesagt, wie alles ist.Ganz genau hat er's mir gesagt. Da Papa es richtig wissen muß,will ich einige Worte über den Bolksschulraum verlieren.Der Schulraum besteht aus vier Wänden. An der einen hängtdie große schwarze Tafel, an den anderen die Ehre des christlichenStaates.Es gibt aber gute und schlechte Schulräume. Auf dem flachenLande sind sie gut. in den großen Städten sind sie schlecht, in Berlinsind sie sogar ekelhaft. Die Schulräume werden auf dem Wege vonMagdeburg nach Rußland immer besser. In Ostpreußen sind sie sovorzüglich, daß in einem einzigen Zimmer oft 150 Kinder Platz suchen.So begehrt sind die guten Schulräume. Am besten sind sie, wennnebenan der Schweineftall ist. Denn das arme Volk muß den Sinnfür die Natur bewahren. Auch muß es im Sommer durchregnen, daßdie Pilze drin wachsen, und im Winter rauchen und ziehen. Denn das armeVolk darf nicht verweichlicht werden. Die allerbeste» Schulräumesind, wo die Kinder immerzu nicht reingehen, weil sie auf dem Feldearbeiten müssen. Papa sagt: Halbbildung ist vom Uebel.Darum lernen die Kinder in den guten Schulräumen, wo dieEhre des christlichen Staates an drei Wänden aufhängt, mir Kate-chismus, Bibelsprüche und Gesangbuchverse. Rechnen haben sie nichtnotwendig. Denn der gnädige Herr rechnet den Lohn immer richtigaus. Auch das Schreiben sollen sie nicht sich aneignen. Dennmanche armen Leute, wenn sie schreiben können, werden hochmütig,und setzen was in die Zeitung, lvas Papa immer ärgert.Denn sie setzen es nie in den»Lokalanzeiger", den Papaimmer liest, sondern in Blätter, jdie Papa inimer ärgern,ivorauf er aber ausspuckt. In den guten Schulräumen wird auch