Unlerhaltimgsblatt des Vorwärts Nr. 47. Dienstag, den 7. März. 1905 (Nachdruck verboten� 1] Mira!— JVIainal r) Erzählung aus dem Leben der Hafenarbeiter von V. I. D m i t r i e w a. Autorisierte Uebersctzung aus dem Russischen von S. E. W i n i k o f si Vor einigen Monaten war Mikola Sidni'koff nach Batum gekommen. Eine furchtbare Hungersnot hatte ihn aus dem Tambower Gouvernement vertrieben, wo er im Dorfe Saschi- bino eine verfallene Hütte und ein Fleckchen Erde besaß, das vor Erschöpfung schon lange aufgehört hatte, irgend etwas hervorzubringen. Man rief daher den Familienrat zusammen und beschloß einstimmig, Mikola solle auswandern und sich irgendwo Arbeit suchen. Mikola begann, seine Vorbereitungen zu treffen. Er ließ sich einen Jahrespaß ausstellen, die Frau buk ihm aus geliehenem Mehl Fladen, kochte mehrere Eier hart und riß aus dem Gemüsegarten die letzten Zwiebeln. Der greise Vater gab ihm mit zitterirden Händen einen Silber- rubel, und Mikola machte sich auf den Weg. In der benachbarten Stadt riet man ihm, er solle nach Kuban ziehen, wo eine noch nie dagewesene Ernte sein sollte. Und nachdem sich Mikola einem Trupp Barfüßler und hungernder Arbeitsuchender angeschlossen hatte, zog er von bannen. Sie gingen viel zu Fuß oder fuhren, wo es irgendwie ging als„Hasen" mit der Bahn. Einmal verkroch sich Mikola in einem Güterwagen mit Heu, wo er fast erstickte, ein ander- mal mußte er sich in dem Schornstein einer ungeheizten Loko- motive verbergen. Endlich, nach all diesen durchlebten Müh- seligkeiten und Schrecknissen kam er nach Kuban, wo er erfuhr, daß keine Feldarbeiter mehr gedungen wurden. Er kam gerade noch zur Zeit, um zu sehen, wie eine Menge ebensolcher Existenzen abgewiesen ivürde und sich wieder auf den Rückweg machte. Mikola aber konnte nicht wieder zurückgehen, und nachdem er eine Zeitlang im Kaukasus umhergezogen war, begab er sich auf irgend jemandes Rat nach Batum . Als der Frühzug der Kaukaser Eisenbahn Mikola auf dem Bahnsteig auslud, war er zuerst völlig ratlos, was er tun, und wohin er sich wenden sollte. Ringsum drängten sich schwarze schnauzbärtige Gestalten, und eine ihm eigentümliche und unbekannte Sprache schlug an sein Ohr. Ein ungeheuer großer Türke, der seine großen glänzenden Augen herumrollen ließ, rannte ihn fast um, und fortgerissen von diesem bunten, gesprächigen Strom menschlicher Körper, sah sich Mikola, er wußte selbst nicht wie. Plötzlich auf der Straße. Hier erholte er sich ein wenig und sah sich um. Die Straße war breit und glatt wie eine Diele, und auf ihr standen Bäume, die mit weißen und rosa Blüten bedeckt waren. Die Häuser waren alle groß und schön, mit Balkons und breiten Fenstern, die durch gitterartige Laden geschlossen waren. Schöne, mit zwei Pferden bespannte Wagen rollten, auf Gummirädern, über den Damm, und in ihnen saßen geputzte Herren und Damen in weißen Kleidern, mit Rosen vor der Brust und in den Händen und mit fröhlichen, sorglosen und lächelnden Gesichtern.„Sieh mal an," dachte Mikola und fing an, ohne Grund zu lächeln;„'s lebt sich wohl gut hier in der schönen Stadt;" aber das be- kannte schneidende und schmerzhafte Gefühl unter der Herz- grübe vertrieb ihm sogleich solche Gedanken. Und die nur einen Augenblick währende Aufmunterung, die durch den Duft der Blüten, durch die wohlige Wärme der Morgensonne und durch das Schauspiel der Ueppigkeit und Eleganz hervorgerufen war, machte gleich wieder der Ermattung und der Sorge Platz. „Ja, fein leben sie, aber, was hast du jetzt zu fressen? Fressen muß man doch wohl," ertönte in seiner Seele eine grobe, spottende Stinune. Und dieser Stimme gehorchend, setzte sich Mikola ergeben in Bewegung. Mechanisch durchschritt er eine Straße, eine zweite und dann eine Gasse und gelangte endlich zu einem großen weiten Platz. Vor ihm lag das Meer, unendlich groß und fast ganz still; es wärmte sich unter den Strahlen der hellen Sonne. Mikola, der für gewöhnlich den Schönheiten der Natur gleichgiiltig gegenüberstand, war vor Ueberraschung ganz bestürzt und blieb stehen. Schon aus *) Worte, die beim Ausladen der Schiffe gebraucht werden. Mra bedeutet Hinauf! Maina Herunterl dem Fenster des Eisenbahnwagens hatte er das Meer gesehen, aber nur einen schmalen türkisfarbenen Streifen, der zwischen den Bäumen hindurchschimmerte. Jetzt aber lag es ganz vor ihm, in seiner Weite und Breite und schien in den Himmel zu reichen. Mikola erschrak vor dieser Größe; es wurde ihm beklommen zumute, und ein Rieseln wie von Ameisen lief ihm den Rücken entlang. Er faßte sich an der Nase, wie, um sich zu überzeugen, ob er nicht schlafe und dies alles nur im Traume sähe; aber nein, er schlief nicht, das Meer lag wirklich vor ihm und schaukelte und bewegte sich wie lebendig, und die weißen Wellen krochen langsam zum Ufer und wieder zurück. Da schwamm auch ein Boot, und sein dreieckiges Segel wiegte sich und zitterte in der Luft wie ein großer Vogel. „O Gott!" Und Mikola schöpfte aus tiefer Brust Attzm und bekreuzigte sich.„Lieber Gott, welch ein Wunder! Gar nicht wie in der Wirklichkeit! Und Saschibino, unser Saschi- bino, wie weit wird wohl unser Saschibino von hier sein?.! Ach, gnädiger Gott, wie groß ist doch deine Erde!" Und Mikola konnte es nicht fassen, daß er, derselbe Mikola Sidnikoff, der vor kurzem in Saschibino gewohnt, und der im Felde auf dem Wagen liegend zum gestirnten Himmel emporgesehen und bei sich gedacht hatte: Hier ist Saschibino, und dahinter fließt die Kersch«, und dahinter ist das Gouvernement, und dann weiter Moskau , und nach Moskau Petersburg , und das ist das ganze Rußland.„Ei, was es doch alles für Gegenden noch gab! Und wie groß Rußland ist! Reicht bis zum Meere, aber hinter dem Meere liegt doch wohl auch noch Erde, und dort leben wohl andere Völker?" Mikola schien sich plötzlich ganz klein und nichtig im Vergleich zu der ungeheuren Erde, deren Größe ihm zum erstenmal angesichts des Meeres zum Bewußtsein kam. Und ihm wurde sehr bange. Und das Meer vor ihm flüsterte und seufzte, und seine milchig-türkisfarbene Brust zitterte unter den heißen Sonnen- strahlen. Unter der Herzgrube fing es bei Mikola wieder an zu schneiden, und dieses ihm wohlbekannte Hungergefühl brachte ihn wieder zu sich. „Jetzt etwas zu frühstücken haben!" Er sah auf das Meer, auf den schönen, grünen Rasen des Platzes und dann auf sich. Er sah wirklich uicht schön aus. Ausgetretene, durch und durch verstaubte Bastschuhe, schmutzige Fußlappen, ein geflicktes leinenes Hemd und ebensolche Bein» klcider. Diese finstere Gestalt mit dem Sack auf dem Rücken stach wirklich ab vor dem geschmückten Platz mit dem Hinter- grund des ewig schönen Meeres und dem festtäglich blauen Himmel. Mikola begriff das, und seine eigene Nichtigkeit und Armut erschreckte ihn. Ein Schutzmann, mit strengem Gesicht, streng zusammen» gezogenen Brauen, kam zornig auf ihn zu. „Was willst Du hier? Wie?" fragte er, sich gewichtig vor Mikola aufpflanzend.„Hier zu stehen ist verboten, hörst Du?" Mikola lächelte schuldbewußt. „Wenn ich das gewußt hätte," fing er an.„Sieh mal.. ich bin zum erstenmal.. und nun Hab' ich mich verirrt." „Nun, so dreh' doch die Deichsel um! Treibst Dich hier rum, nichtsnutziges Gesindel!" Mikola stand still und starrte freudig auf den Schutzmann. So lange schon hatte er keine russischen Worte, keine echt russi» schen Schimpfwörter gehört, daß ihm dieser zormge Schutz» mann lieber zu sein schien als sein eigener Vater. „Ich gehe schon," sagte er, als der Schutzmann den ganzen Vorrat seiner Polizeischimpfwörter erschöpft hatte,„möchte bloß was zu essen haben. Von Tiflis an habe ich nichts ge» gessen, bei Gott !" „Woher bist Du denn?" Ter Schutzmann ließ sich er» weichen und langte in seine Tasche nach Tabak zum Zeichen der völligen Aussöhnung. Mikola sagte es ihm.. �» „Sieh mal an, von wo sie sich her,chleppen! Wozu? Gibt es denn zu Hause nicht genug Brot?" „Natürlich nicht. Rußland ist eben verarmt, Bruderchen. Ganz verarmt, bis zur Wurzel!"_ �„. „Nun, willst Du ein paar Züge? Hier!>;ch, Bruder.
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22 (7.3.1905) 47
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