Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 90.

10]

flammen.

Mittwoch, den 10. Mai.

( Nachdrud verboten.)

Roman von Wilhelm Hegeler .

" Picht" machte der lebhafte Herr, als sich die Tür öffnete und ein glatt rasierter Herr eintrat, der mit schlau ver­schämtem Lächeln um sich blickend, freundlich nach allen Seiten guten Tag wünschte. Nachdem er in irgend einer Ecke Play genommen hatte, wischte er sich die Feuchtigkeit aus seinen Mundwinkeln und fuhr fort, mit demselben schlauen, halb verschämten, halb spöttischen Lächeln um sich zu blicken.

Der alte Direktor zog wieder seine silberne Uhr aus der Westentasche.

1905

Alle hatten wieder Platz genommen, nur der Schuldirektor mit dem verhätschelten Bäuchlein stand noch ganz fassungs­los da.

" Das versteh ich doch char nich! Ich war doch der Erste. Cheht denn das nich nach der Reihe?"

Aber niemand antwortete ihm, jeder schien mit sich selbst beschäftigt. Auf allen Gesichtern lag eine schmerzhafte Span­nung, man hätte sich im Wartezimmer eines Zahnarztes wähnen können.

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, als ein Diener feinen Stopf durch die halb geöffnete Tür des Audienzzimmers steckte und halblaut hereinrief:

Herr Doktor Grabaus."

,, Na, mein lieber Herr Doktor, Sie lassen sich auch mal wieder sehen? aus seinem Schreibtischstuhl erhob. Herr Ministerialdirektor, ich wollte

un warte ich hier schon volle drei Stunden. Das bold, indem er as bringen Sie uns Schönes?" fragte Wohl

ist doch chanz-chrecklich. Und das S- chlimmste ist, man vergißt chanz, was man eigentlich sagen wollte. Ich danke bloß Chott, daß ich der Erste bin."

-

Das Gespräch war verstummt. Schläfrig schlichen die Viertelstunden hin. Durch die hohen, kahlen Fenster fiel das graue Licht eines trüben Großstadthimmels. Grabaus hatte Den Kopf aufgeſtüßt und schaute auf das Bild eines majestäti­schen Herrn an der Wand, mit pompösem weißem Bart und vielen, besonders gut gemalten Orden, dessen starre Augen gerade in eine auf dem runden Tisch stehende Streusandbüchse hinabzublicken schienen. Unter diesem Bild, gewissermaßen in dessen Schutz, hatte der geistliche Herr mit dem schlauen Lächeln Platz genommen. Nachdem er einige tausendmal feine Daumen umeinander gedreht und sich zwischendurch die Mundwinkel ab­gewischt hatte, lächelte er plötzlich noch schlauer, stand Teise auf und verschwand auf eine diskrete Weise.

" Ich wette, der findet durch eine Hintertür seinen Weg zum Ministerialdirektor," sagte der sanguinische Schulmann zu seinem Kollegen.

"

,, Ach Chott, vielleicht sucht er auch nur' ne Chelegenheit," antwortete dieser.

Von Zeit zu Zeit versuchte Grabaus das, was er dem Ministerialdirektor vortragen wollte, in möglichst präzise Worte zusammenzufassen. Aber als wenn er überzeugt wäre, daß er im gegebenen Augenblick schon das Rechte finden würde, be­freite er sich bald wieder von dem Zwang, und sich selbst über­Lassen, beschäftigten sich seine Gedanken mit den gestrigen Er­lebnissen. Da geschah's denn, daß auf dem alten zerschliffenen Ledersofa plötzlich Maggie auftauchte, die Arme ausstreckte und mit ihrer füßesten Stimme flehte: Sagen Sie 3 einmal: ich hab Dich lieb" Auch Klang der Name Marie Luise in seinem Chr wieder, Neugierde und mancherlei Vorstellungen weckend. Doch von diesem Spiel in einer fremden Welt, die ihm auch immer fremd bleiben würde, kehrte sein Geist bald zur Wirklichkeit zurück. Und die war Arbeit und einsamer Kampf.

Endlich wurde die gepolsterte Tür des Audienzzimmers geräuschlos geöffnet, und ein mittelgroßer Mann, ähnlich einem Schiffszimmermann oder Methodistenprediger mit ziemlich groben Zügen und unterm Kinn hervorkriechendem Bart trat ein. Alle waren aufgesprungen und dienerten mehr oder weniger tief. Der Ministerialdirektor kam mit kurzen Ver­beugungen bis zur Mitte des Zimmers und ging dann nach sekundenlanger Ueberlegung auf den am Kamin lehnenden Herrn los, auf dessen Gesicht das Eis plötzlich schmolz und eitel Beglücktheit strahlte.

,, Ah, mein verehrter Herr Professor, Sie in unserer be­scheidenen Hütte! Was verschafft uns das Vergnügen? Kommen Sie, kommen Sie!"

Er zog und schob ihn bis nahe an die Tür seines Zimmers, schien dann plößlich den Journalisten zu bemerken und sagte: Ah, Herr Doktor! Sehr verbunden! Treten Sie nur ein, Herr Professor, nehmen Sie bitte Platz! Verzeihen Sie nur noch einen Moment!"

Dabei hatte er die Tür hinter dem Professor geschlossen und eilte auf den Journalisten zu.

" Freut mich Sie zu sehen, lieber Doktor. Wir machen unsere Angelegenheit wohl gleich hier ab."

Er öffnete die entgegengesetzte Tür und verschwand eilig. Der Journalist folgte ihm, indem er sich von den Zurück gebliebenen mit einem triumphierenden Lächeln verabschiedete,

Zu allererst mal grüßen von Ihrem Herrn Papa. Es geht ihm doch gut, wie?"

,, Danke, sehr gut."

" Ja, der hat weise gehandelt. Zur rechten Zeit Feier­abend gemacht. So kann er wenigstens noch die Muße ge nießen. Ist er denn noch rüstig?"

Wir Kinder sind erstaunt, daß er sich noch so jung er. halten hat. Freilich so rüstig wie der Herr Ministerial­direktor"

Mich hält der Aerger jung, mein lieber Doktor. Ich denke manchmal, es wäre Zeit. Aber dann kommt jedesmal was, daß ich mir sage: ne, noch nich. Na, mun fagen Sie mal, Sie haben sich ja so lange nicht bei uns bösen Preußen blicken lassen. Es sind doch mindestens drei, vier Jahre her." Fünf Jahre."

"

Was? Schon fünf Jahre haben Sie sich habilitiert?" Er legte den Kopf zurück und fragte seinen Rinnbart. Dann nahm er in seinem Schreibtischstuhl Platz, indem er Grabaus auf einen Ledersessel wies.

" Ich habe doch fürzlich von Ihnen gehört. Irgend jemand hat mir von Ihnen erzähltach, ja, ja, ja. Nu sagen Sie mal, wie gefällts Ihnen denn in Jena ? Sind Sie mit Ihrer Tätigkeit zufrieden?"

Grabaus holte tief Atem und sagte kurz heraus: Nein."

Was? Nicht zufrieden? Dabei sollen Sie doch so gute Erfolge gehabt haben. Sie hatten ja gleich' ne Menge Hörer." Anfangs wohl, aber dann

"

"

-

Na, erzählen Sie, erzählen Sie! Aber sagen Sie doch mal" unterbrach er sich plötzlich, indem er wie schlaf­trunken seine Stirn und Augen rieb. Sie haben mir doch damals ein Buch gebracht."

Meine Ursprünge der Philosophie."

,, Ganz recht. Sagen Sie mal, wie fommen Sie dazu" er beugte sich vor und riß die Augen weit auf dies Buch einer Sozialistin zu widmen?"

"

Einen Moment war Grabaus stuzzig, befann sich aber sogleich.

,, Als ich es ihr widmete, war sie es noch nicht."

Hören Sie mal, das hätte Ihnen den Hals kosten können. Na" fuhr er einlenkend fort, während die plöß­lich zugekniffenen Augen seinem Gesicht einen unglaublich ver­schmigten Ausdruck gaben- war sie wenigstens hübsch?" Hübschnein!"

" Nicht mal das? Und für eine solche Person kompro­mittieren Sie sich? Wenn man sich mit einem Menschen ein­läßt, muß man auch seine Zukunft kennen. Was geht Sie als Staatsbeamten die Sozialistin an?"

-

,, Verzeihen Sie, Herr Ministerialdirektor" erwiderte Grabaus etwas erregt die Frau ist erst nach der letzten Polenpolitik der Regierung zum Sozialismus übergetreten. Sie ist nämlich Polin."

" Polin auch noch!" freischte der alte Herr, als wenn ihn jemand auf den Fuß getreten hätte. Das wird ja immer schöner. Ich sage Ihnen, die Polen sind die allerschlimmsten. Schlimmer als die liberalen Theologen, als Sie ver­teidigen doch diese Menschen nicht? Was wollen sie denn eigentlich? Sollen wir ihnen einen großpolnischen König ein sezen?"