So erhebt sich der Bäreneckle-Bauer, gleitet aus dem Bett und schwankt an das Fenster. Wie die schwächste Pflanze sich windet und dreht, bis sie ein Sonnenfünkchen sieht und daraus ihr Leben saugt, so zerrt ihn die Sehnsucht und gibt ihm die Kraft, das Fenster zu öffnen. Und nun atmet er; Gewährung und Verlangen kräftigen ihn, sich mit den Händen an den Fensterrahmen zu krallen wie an das Leben selber, und fich emporzuschwingen und hinauszublicken. Wie ein Rausch kommt es über ihn und benebelt ihm die Sinne; die Glieder straffen sich in der Kraft der Verzweiflung. Er zwängt sich an das Fenster und ist unbesorgt wie im Schlafe. Nur hinaus I Hinaus in den Sonnenschein, in die lichte Welt I Hinaus an das sprühende Wasser I Nur einen Tropfen, einen einzigen Tropfen mit den Lippen, mit der Zunge auffangen dürfen I Er weih selber nicht, was weiter geschieht, der Bauer. Ein in der Leidenschaft nach dem Leben noch einmal stark ge- wordener Körper gleitet durch den Fensterrahmen und fällt auf die grüne, sonnendurchwärmte Matte; er reckt fich und dehnt fich und windet sich an den Bach, öffnet den Mund und läht die kleinen, feinen Spritzerchen des schäumenden Wassers auf Stirne, Lippen und Zunge fallen und dann wagt er auch ein paar ttefe, volle Züge,— Züge an lebendurchfluteter Lust und an lebenspendendem Nah. Ihm ist, als sei er schon unter der Erde gewesen, dem Ersttcken und Ver- schmachten preisgegeben, und nun sei er gerettet, wenn man ihm nicht etwa das bihchen Leben aus Sorge für ihn wieder abschnitte. Doch dazu sollten die Menschen nicht mehr gelangen, wenn sie auch in der Ueberzahl waren.— nein, er wollte sich, um die Ver- wandtschast nicht zu Gewaltmitteln zu reizen, fein still und ruhig verhalten und in der Hoffnung auf eine neue heimliche Labung bis morgen ausharren. So raffte er sich auf, rannte um das Haus, schloß seinen Kerker auf und legte sich wieder zu Bett. Doch obwohl er sich bemühte, den heimkehrenden Verwandten das alte Gesicht zu zeigen, und ob- gleich er nur innerlich quietschvergnügt sein wollte, brachte ihn die offene Tür in Verdacht. Auch ein Zeuge fand sich, der alles zu sehen pflegte und Peterling sPetersilie) auf jedem Süpple war; ja, sagte er, er habe vom Walde her einen erregten bleichen Mann von der Gestalt des Bäreneckle-Bauern um das Haus rennen sehen. Da ging ein Jammern und Wimmern los ohne Ende im Hause des Kranken: der kranke Bauer war am Wasser gewesen und hatte gewunken I Wie auf Flügeln des Windes ging die Schreckenskunde von Haus zu Haus, und bei Nacht und Nebel rannte auch ein Bote des Ünglückshauses nach der Stadt: der Herr Doktor möge beim Bäreneckle-Bauern erscheinen: bei diesem Unglücksmenschen. Den Typhus habe er fast überstanden gehabt, doch im Fieber habe er dumme Dinge angegeben, und nach dem Unheil müsse man doch den Arzt holen, bigott;— wenigstens, damit sich die Verwandten nicht nachher, nach dem Tode des unüberlegten Menschen, vor- werfen mühten, nicht das letzte Mittel versucht zu haben. Der Arzt kam, und in seiner Gegenwart fahte der Kranke Mut zu einem Geständnis. Und wer auch mit gesträubtem Haar dabei- stand, muhte von der Fahrt durch das Fenster, von dem Rutsch zum Wasser und von der Jagd um und in das HauS hören. Auch hatte der Bäreneckle-Bauer, so wagte er ohne Furcht und Zittern zu ? gestehen, augenblicklich keinen anderen Wunsch, als sich noch einmal atttrinken und abermals die Sonne am offenen Fenster sehen zu dürfen wie gestern. Weiter fehlte nichts I sagten die Verwandten und die anderen Klettborner. Der Arzt sagte ebenso, nur in anderem Sinne, lieh den Kranken winken, gab ihm auch die Sonne und stand nach einigen weiteren Verordnungen bald vor einem Gesunden. Andere Kranke aber waren gestorben, ohne Wasser zu trinken. So verbreitete sich die Wundermär von der abenteuerlichen Fahrt und Genesung des Bäreneckle- Bauers in Dorf und Land; jeder Großvater erzählte sie dem Enkel haarklein. Wer Augen hat, zu sehen, erkennt die kluggemachten Enkel noch heute, und nicht nur in Klettborn: sie holen zwar keinen Arzt jdenn das haben die Ver- wandten des Bäreneckle-Bauern nur im ersten Schreck besinnungslos «;etan>; sie winken auch kein Wasser wie der Bauer<denn das wird ast immer gefährlich, hat man gehört I); dagegen legen sie noch ganz wie der Bäreneckle- Bauer m Zeiten der Not den letzten der Sieben Himmelsriegel unter das Kopfkissen. Und gar durch das Fen sterle springen, weil'S erwiesenermaßen dem Bäreneckle-Bauer geholfen hat, das tun sie allesamt.— lNachdruck verboten.) Das rote Lachend) l. fast alle Pferde und die gesamte Bedienungsmannschaft. Und ebenso sieht es bei der achten Batterie aus. Bei unserer Batterie, der zwölften, waren am dritten Tage nur noch drei brauchbare Ge- schütze vorhanden, die übrigen waren total zerschossen; von den Leuten waren noch sechs Mann dienstfähig, und ein Offizier, nämlich ich. Seit zwanzig Stunden hatten wir kein Auge zugetan und keinen Bissen gegesien; dreimal vierundzwanzig' Stunden lang *) Aus»DaS rote Lachen'. Von Leonid Andrejew . Deutsch von August Scholz . Verlag»Snanije", Berlin L., Camphausenstr. LS. hüllte uns dieses infernalische Gedröhne und Geknatter gleichsam ia eine Wolke des Wahns, die uns von der Erde, vom Himmel, von den Unsrigen schied und uns wie Schlafwandler umhergehen ließ. Unsere Toten— die lagen still und regungslos da, wir aber be- wegten uns hin und her, verrichteten unsere Obliegenheiten. redeten mit einander, lachten sogar— und waren dabei wie die Mondsüchtigen. Unsere Bewegungen waren präzis und rasch, die Befehle klar, die Ausführung proinpt— aber wenn man plötzlich jemanden von uns gefragt hätte, wer er sei— er hätte in seinem verdüsterten Hirn kaum eine Autwort gefunden. Wie im Traume schienen uns alle Gesichter längst bekannt, und alles, was ringsum vorging, schien uns gleichfalls längst bekannt und vertraut, als ob es schon einmal gewesen wäre; wenn ich dann aber eins der Ge- sichter oder ein Geschütz aufmerksamer ansah oder auf den Donner der Geschütze, das Pfeifen und Zischen der Geschosse lauschte— machte mich alles durch seine Neuheit und seine unergründliche Rätsel- hastigkeit bewoffen. Die Nacht brach herein, ohne daß wir es bemerkten, und kaum waren wir sie gewahr geworden, kaum hatten wir uns verwundert geftagt, woher sie so plötzlich gekommen, als bereits die Sonne wieder auf unsere Köpfe niederglühte. Erst von den Kameraden, die uns bei unserer Batterie aufsuchten, erfuhren wir, daß der Kampf schon in den dritten Tag hinein wütete, doch hatten wir daS gleich wieder vergessen: uns schien es, daß das alles nur ein einziger Tag ohne Anfang und ohne Ende war, der bald hell und bald dunkel, zu jeder Frist jedoch gleich unbegreiflich, gleich unfaßbar war. Und niemand von uns fürchtete den Tod— da niemand von uns begriff, was der Tod sei... In der dritten oder vierten Nacht, ich weiß es nicht mehr genau legte ich mich für einen Augenblick hinter der Brustlvehr nieder, und so wie ich nur die Augen schloß, trat sogleich das bekannte Bild vor meine Augen: das Stück blaue Tapete und die unberührte, staubige Karaffe auf meinem Tischchen. Und im anstoßenden Zimmer— so, daß ich sie nicht sehen kann— befinden sich meine Frau und mein kleiner Sohn. Nur daß jetzt auf dem Tische eine Lampe mit grüner Glocke brannte, also jedenfalls Abend oder Nacht war. Un- beweglich stand das Bild vor meinem Geiste, so daß ich in aller Ruhe und mtt aller Aufmerksamkeit die Tapete betrachten, daS Spiel deS Lichtes in dem Kristall der Karaffe beobachten und darüber nachdenken konnte, warum denn mein Sohn nicht schlafe: es war doch schon spät in der Nacht, und er hätte längst schlafen sollen. Noch einmal bettachtete ich dann die Tapete, all die Schnörkel des Musters, die silbernen Blumen, Guirlanden und Stäbe— ich hätte nie geglaubt, daß ich mein Zimmer so genau kannte. Bisweilen öffnete ich die Augen und sah den schwarzen Himmel mit den seltsam schönen, feurigen Stteifen darauf, und ich schloß sie wieder, sah wieder die Tapete und die Karaffe und dachte darüber nach, wanim denn mein Sohn nicht schlafe: es war doch Nacht und er sollte längst schlafen. In meiner nächsten Nähe explodierte eine Granate, meine Beine wurden von einer unsichtbaren Gewalt zur Seite geschoben, und irgend jemand schrie laut auf— so laut, daß selbst der 5knall der Explosion übertönt wurde.«Wieder jemand tot," dachte ich, doch rührte ich mich nicht von der Stelle und verwandte keinen Blick von der Tapete meines Zimmers und der Karaffe. Dann erhob ich mich, ging umher, erteilte Befehle, bettachtete die Gesichter meiner Leute, stellte das Ziel ein und dachte dabei nur immer: Warum mag mein Sohn noch nicht schlafen? Einmal fragte ich einen von den Fahrern danach, und er begann mir irgend etwas des langen und breiten ausemanderzusetzen, und wir nickten beide mit dem Kopfe. Und er lachte dabei, und seine linke Braue zuckte, und das Auge blinzelte und gab mir ein Zeichen, nach hinten zu schauen. Dort, hinter ihm, sah man nichts als die Stiefelsohlen an irgend jemandes Füßen... Es war bereits heller, lichter Tag— als es plötzlich zu regnen begann. Ein Regen wie bei uns daheim— lauter ganz gewöhnliche Wasierttopfen. Er kam so unerwartet und unerwünscht, und wir fiirchteten uns alle so sehr vor dem Naßwerden, daß wir mit dem Schießen aufhörten, die Geschütze stehen ließen und uns verkrochen, wo wir irgend konnten. Der Fahrer, mit dem ich soeben gesprochen hatte, ttoch unter die Lafette und blieb dort hocken, obschon er in seinem Versteck jeden Augenblick überfahren werden könnte; der dicke Feuerwerker zog einem der Toten die Kleider aus, um damit die seinigen zu schützen und ich lief in der Batterie hin und her, um einen Mantel oder Regenschirm aufzutteiben. Mit einem Male war auf dem ganzen ausgedehnten Raum, über den die Regenwolke hin- wegzog, alles verstummt. Ein verspätetes Schrapnell kam daher- gesaust und explodierte; dann wurde es vollends still— so still, daß man das Schnaufen des dicken Feuerwerkers und das Trommeln der Regenttopfen auf den Steinen und Geschütz- röhren hören konnte. Und dieses leise, wirbelnde, an den Herbst mahnende Geräusch, diese Stille ringsum und der Geruch des auf-- geweichten Bodens zerrissen für einen Augenblick den dichten, blusigen Nebel, der mein Hirn umlagerte, und als ich das nasse, vom Regen glänzende Geschütz bettachtete, weckte sein Anblick ganz unerwartet traute, stille Jugenderinnerungeu in mir: Erinnerungen an meine Kindheit, an meine erste Liebe. Aus der Ferne aber dröhnte Plötz- lich jäh und laut der erste Schuß, und der Zauber der momentanen Ruhe entschwand; ebenso Plötzlich, wie die Leute sich verkochen hatten, kamen sie aus ihren Deckungen wieder hervor; der dich- Feuerwerker schrie irgend jemanden an; ein Schuß krachte, ihm folgte sogleich ein zweiter-- und von neuen, umschleierte der
Ausgabe
22 (10.5.1905) 90
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten