Anlerhaltimgsblatt des Horwärts Nr. 100. Mittwoch, den 24. Mai. 1905 (Nachdruck verdotcn.) 20] flammen. Roman von Wilhelm Hegeler  . Von der Galerie herab ertönten plötzlich Fanfaren. Das Publikum nahm nun elligst Platz. Wolf hatte nur einen Stuhl gefunden, den er ans Ende der Reihe stellte. Auf diesen mußte Drabaus sich setzen. So war er ganz in Marie Luisens Nähe, nur vier Leute trennten sie und ihn, und doch konnte er sie nicht sehen. Und während die schmetternden Klänge gleich feurig sich aufbäumenden Wogen gegen die Marmorwände brandeten, ergriff ihn ein ungeheurer Schmerz. Ihm schien, als sei sie ihm ganz entrückt, unerreichbar für jetzt und alle jEwigkeit, als ständen überall die Menschen, deren stolze Namen er vorhin gehört, die ihrem, nicht seinem Kreis angehörten, wie ein feindliches Bollwerk zwischen ihr und ihm. Was war er? Was konnte er werden? Bei allem Glück, wenn die Zu- Zunft ihm noch so hold war! Sein Name konnte Glanz ge- Winnen. Den Ruhm eines hervorragenden Gelehrten ver­mochte er zu erringen. Dann würde sie mit Achtimg von ihm spreckM. Seine Bücher würden ihr vielleicht Interesse ein­flößen, doch immer blieb die Kluft unüberwindlich bestehen. Immer war er der Mensch aus einer anderen Welt. Der letzte schmetternde Ton war verklungen, wie der letzte glühende Sonnenstrahl Plötzlich erlischt. Nun wurde es ganz ftill. Stur das leise Surren einer elektrischen Lampe war hör- bar, und dann und wann das Rücken eines Stuhles. Lange Minuten währte diese Stille, wurde tiefer und tiefer. Von den marmornen Säulen, den schneeweißen Wänden, ans der hohen Kuppel ergossen sich Ströme andachtsvoller Schauer, ganz von selbst wandelte die profane Halle sich in eine Kirche. Da erklang Beethovens:die Himniel rühmen des Ewigen Ehre." In gewaltiger Fülle und doch in bebender Scheu, in kraft- vollem Jubel und zart zugleich wie erstes Frühlicht schwebten die Männerstimmen dahin, den weiten Raum erfüllend mit einer einzigen Woge von Licht und Sieg und Freude. Und Grabaus eben noch verzagtes Herz flog empor, wie mitgerissen von diesen schwingenden Tönen. Ihm schien der jubelnde Chor Preis und Ehre Marie Luisens zu verkünden. Mochte sie in unerreichbaren Fernen über ihm schweben, war es nicht Glücks genug, sie nur zu kennen und zu ihr aufzuschauen wie zu einem strahlenden Stern? Sehr lange dauerten die Vorträge, viel zu lange, als daß die andächtige Stimmung, den Großstädtern ohnehin so unge- wohnt, hätte stand halten können. Als immer neue Kantaten und Hynmen angestimmt wurden, da blickte manch einer seufzend auf das Programm, und manche Dame drehte sich unlustig auf ihrem Stuhl, in dem Gedanken, daß sie doch nicht diesem ehrwürdigen Mämierchor zuliebe für zehntausend Mark Brillanten angelegt hätte. Das Auftreten einer Solistin wirkte wie Erlösung. Mit rauschendem Beifall wurden ihre Vorträge aufgenommen. Aber es entsprach doch der allgemeinen Stimmung, als am Ende ein Herr zu seinem Nachbar äußerte:Klatschen Sie nur nicht zu viel, sonst gibt sie noch was zu." Natürlich gab sie noch etwas zu. Auch das wurde mit Anstand angehört. Als dann aber der letzte Ton verklungen war, entstand eine förmliche Flucht in den Nebensaal, wo die Büfetts aufgestellt waren. Die Gesellschaft um Marie Luise nahm an einem von Gebhard reservierten Tisch Platz. Ein Kellner Jbrachte Sekt und kalte Sachen. Neben Marie Luise saß ein schöner, alter General, der von der großen Vergangenheit schwärmte, als Bismarck   noch im Reichstag gesprochen hatte. Ein junger, blasser Graf, mit mädchenhaften Zügen und dünner Stimme erklärte die ganze Architektur für verfehlt. Diese Verschwen- billig von Marmor, diese kolossalen dorischen Säulen paßten für Leute in bunten, dekorativen Kostümen, aber nicht für moderne Menschen. Wolf, der noch immer unruhig nach Maggie ausspähte, führte eine etwas mühsame Unterhaltung mit einem jungen Mädchen aus Potsdam  . Ich war heute den ganzen Tag in Potsdam  , gnädige? Fräulein," erzählte er. In Potsdam  " erwiderte die junge Dame Ich habe die Parks durchstreift. Das heißt, in den Schlossern war ich natürlich auch. Am besten hat mir doch Sanssouci   gefallen." Sanssouci  " erwiderte die junge Dame. Dort ist wirklich alles noch in seiner Ursprünglichkeit erhalten. Man fühlt sich förmlich angeweht vom Geist des alten Fritz." Der alte Friedrich der Große!" erwiderte die junge Dame. Gnädiges Fräulein kennen naürlich Sanssouci  ?" Sanssouci   ja von außen. Ich war mit Mama ini Neuen Palais." Die Mama, eine alte, dicke, kleine Exzellenz mit viel falschem weißen Haar unterhielt sich desto lebhafter mit Grab- aus. Nachdem sie sich genau erkundigt hatte, wer und woher er sei, sagte sie: Ich muß mich doch sehr wundern, wie falsch man von den Zeitungen unterrichtet wird. Da liest man. daß die Herren im Reichstag   sich immer streiten und verschiedener Meinung sind. Aber von ihrem schönen Männerchor hat noch nie etwas drin gestanden. Es hat mich wirklich sehr gefreut, wie sie da alle so einträchtig miteinander sangen." Von ihrer Meinung, daß der Männerchor aus Reichs- tagsmitgliedern zusammengesetzt sei, war die alte Dame nicht leicht abzubringen, und Grabaus ließ sie auch dabei. Was er sprach und hörte, das sprach sein Mund und hörte sein Ohr, er aber, der lebendige Mensch, war ganz von der Nähe Marie Luisens erfüllt. Er sah sie nicht an, nur in langen Zwischen- räumen warf er einen flüchtigen Blick nach ihr, aber sein Herz sog sich von ihr voll, als strömte mit jedem Atemzuge ein Hauch von ihr in sein Inneres. Einmal sprach sie über den ganzen Tisch herüber mit ihm. fragte, ob die Stimmen nicht wunderschön geklungen hätten? Und nun tönten ihre Worte immer in ihm fort. Ob die Stimmen wunderschön geklungen hätten? Ach, was wußte er noch vom Gesang?! Ihre Stimme klang schön, ihr Auge war lieb und gut, alles erhellend und alles verdunkelnd wie die Sonne selbst. Draußen in der Wandelhalle ertönten Walzerklänge. Die Tische leerten sich. Auch Marie Luise erhob sich, am Arm des schönen, alten Generals, der die Fußspitzen immer zuerst auf den Boden setzend, mit seinen steifen Beinen jugendlich und behend daherschritt wie ein Militärpferd, wenn es den Parade- marsch hört. Die kleine, dicke Exzellenz wandte sich an Grab- aus und sagte: Nun müssen Sie mir ein bißchen die Berühmtheiten zeigen, Herr Doktor. Berühmte Leute interessieren mich sehr." O'Gott," erwiderte dieser,verzeihen Sie, Exzellenz, ich kenne keine Berühmtheiten. Ich kenne hier überhaupt kaum zwei, drei Menschen. Aber mein Freund kann Ihnen dienen."> Kurz entschlossen ergriff er den Maler beim Arm, stellte ihn vor und erklärte ihm den Wunsch der Exzellenz. Diensteifrig und beglückt reichte Gebhard der kleinen Dame seinen Arm..... Als Grabaus in die Halle trat, stieß Wolf ihn in die Seite« Schon elf! Und ich habe sie noch immer nicht gesehen!" flüsterte er in verzweifeltem Ton. Dann schielte er mit viel- sagender Miene auf seine Nachbarin, die mit dem ausdrucks» losen Gesicht eines wohlerzogenen Mädchens neben ihm her» schritt. Grabaus stand hinter einer Säule, und während bald nah, bald fern das türkisfarbene Kleid Marie Luisens auf- tauchte, das einzige von diesem Farbenton in der ganzen bunten Menge, war ihm ganz so zumut, wie er es sich gedacht: sehn- suchtsverzehrt, dem Weinen nah und doch beglückt. Er war überzeugt, daß es so bis zum Schluß des Festes bleiben würde« Wie sollte sie in diesem Trubel Zeit gerade für ihn haben? Als er sie dann aber in einer kleinen Gruppe an der Seite ihres Gatten sah, als er bemerkte, wie sie einem Offizier, der sie um einen Tanz bat, diesen abschlug, da drängte er sich durch das Gewühl zu ihr hin, und ihm war� zumut, wie einem Menschen, der in ein brennendes Haus stürzt, um, kos» es, was es wolle, sein Liebstes dort herauszuholen.