Nnterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 109. Mittwoch, den 7. Juni. 1905 (Nachdruck verboten.) 291 flammen. Roman von Wilhelm Hegeler . Grabaus zog ihn zurück, legte ihn vorsichtig um ihre Hut- krempe und lieh dann seine Hände auf ihren Schultern liegen. So zog er sie an sich und küßte sie auf den Mund. Ganz naß, vereist war sein Bart, kaum spürte er die Wärme ihrer Lippen. Aber als er dann den Kopf erhob, schaute er rasch auf, wie verwundert, daß die Sterne noch blinkten und der Mond so still schien. Als sei das Größte, Unmögliche geschehen, das, was seinem Leben neuen Glanz gab und ihn heraushob über die anderen Menschen, war ihm zumute. Stumm gingen sie weiter. Arm in Arm, bald streiften niedrige Zweige sie, und leise gluckste die Ilm , bald wehte über die weite Fläche der Eiseshauch des Schnees sie an. Die Stadt warf ihren Lärm und Lichtschimmer zu ihnen hinüber, dann wieder umgab sie tiefste Stille und matter Dämmerschein. Ohne darauf zu achten, gingen sie weiter, wußten nicht, wie ihnen war, wohin der Weg sie führte, noch wie die Zeit ver- strich in dieser verwunschenen Stunde. Da schauerte sie zusammen, erschrocken fragte er, ob sie fröre? Ein bißchen." Er riß seinen Mantel auf und wollte ihr den umtrin, aber sie wehrte ihm. Nur die Hände frieren. Sonst bin ich warm." Und als er diese nun ergreifen wollte, um sie zu reiben, schüttelte sie wieder leise lächelnd den Kopf. Nicht so! Nicht so!" Ein Wunsch schien sich in ihr zu regen, den sie nicht aus- drücken konnte. Aber endlich nahm sie mit zager Bewegung seinen Arm und legte ihn um ihren Hals und schlang ihren Arm um seinen Rücken. So Wange an Wange, einer vom anderen gehalten, indem ihre Rechte seine umschloß, und seine Linke die ihre, schritten sie dahin. Und während ihre Er­innerung Plötzlich zu jenen Frühlingsabenden ihrer Mädchen- zeit zurückflog, wußte sie, daß so auch der Mann, von dem sie damals geträumt, sie hatte führen müssen. Und wieder standen sie dann still, er küßte sie wieder und wieder und spürte nach jedem Kuß ein wenig mehr die Weich- heit und Wärme ihrer Lippen. Daß ich den je küssen würde, Deinen holden, reinen Mund!" Das ist er nun nicht mehr der reine Mund," sagte sie mit leisem Klagelant. Aber er preßte sie fester an sich. Sag einmal Du zu mir!" ,Da schlang sie ihre Arme um seinen Hals, und wie von inneren Schauern losgerissen, stieß sie heraus: Ach, Heinrich Du, mein Liebster!" Schläge einer Turmuhr schwebten dumpf erzitternd in kurzen Intervallen durch die eisige Klarheit. Doch als sie nun warnend drängte, sie müßte heim, zog er sie weiter. Matt widerstrebend folgte sie, ließ immer heißere Küsse auf ihrem Mund, ihren Wangen, ihren Augen brennen. Und nur wie ein letzter ferner Klang von dem, was einst gewesen, klagte es aus ihr: Was machst Du aus mir, Heinrich! Ich habe keinen Willen mehr. Und müßte längst zu Hans sein." So kamen sie an eine Brücke und schauten in das dunkel fließende Wasser hinab. Wieder mahnten dumpfe Schläge aus der Stille. Das ist dieselbe Brücke, über die wir zuerst gekommen sind, Marie Luise." Dieselbe Brücke. Nur wir sind nicht mehr dieselben." Reut's Dich?" Sie ergriff seine Hand. Versprich mir eins, Heinrich! Gib mir die Hand darauf!" Er sah sie an, lange Zeit. Was Du vorhin sagtest, das ist wahr. Nie wirst Du mir mehr sein wollen, als Du bis heute warst. Nie wirst Du das wollen! Versprich mir das." Ich verspreche Dir's." Was heute war, das bleibt begraben. Nie wirst Du mich daran erinnern." Nie werd' ich das." Es war einmal und darf nie, nie wiederkehren." Und braucht's auch nicht. Denn es war ja für alle Ewigkeit." Sie atmete tief auf und sagte: Dann ist alles gut." Langsam gingen sie Arm in Arm nach Hause, ohne der ihnen begegnenden Menschen zu achten. In der Belvedere- allee, ganz nah schon der Wohnung, kani ihnen ein Mädchen entgegen, einen Handkorb am Arm, das mit eiligen Schritten an ihnen vorüberging. Weißt Du, wer das war?" fragte Marie Luise. Wer denn?" Mein Mädchen. Sie hat mich nicht erkannt. Sie würde ja nie glauben, daß ihre Frau Arm in Arm mit einem fremden Mann geht." Nachdem sie das Gartentor wieder geschlossen hatte, drückten sie sich ein letztes Mal durch das Gitter die Hand. Dann verschwand sie im Hause, und er ging noch immer wie im Traum die stille Straße hinunter. Marie Luise warf nur einen flüchtigen Blick in das Ar- beitszimmer ihres Mannes, wo dieser mit seinem Bruder in lebhafter geschäftlicher Unterhaltung saß. Sie rief den beiden guten Abend zu und sagte, sie käme gleich, nachdem sie sich um- gezogen hätte. Im Schlafzimmer fand sie Christine mit Auf- räumen der Wäsche beschäftigt und bat sie, ihr beim Umkleiden behülflich zu sein. Die alte Kinderfrau, welche Marie Luise noch ini Wägelchen gefahren und sie so ziemlich das ganze Leben hindurch begleitet hatte, machte ein nicht wenig ver- blllfftes Gesicht, als sie ihr die Schuhe auszuziehen versuchte. Na, na, die krieg' ich nich erab, da muß ich doch erscht a Messer holen und sie uffschneidcn. Ach härjeh und der Rock! Sie sind wohl in'n Graben'neingefallen, Frau Major?" Sie ächzte und stöhnte beim Ziehen, und ihr runzliges Gesicht wurde kirschrot von der Anstrengung. Als sie die Schuhe dann glücklich herunter und auch die Strümpfe abge- streift hatte, da geriet sie vor Schreck ganz außer Fassung. Ach, de Füßchen! Guckt doch nur de Füßchcn! Do is juh gor kenn Blut und kenn Leben mihr drin. Wenn die nur nich derfrorcn sind. Was haben Sie denn nur gemacht, Frau Major? Wie kann mcr aber au su dumm sei und bei die 5käll im Park erümgichn?'s is ja doch itz kenn Fröhjahr mihr. Wenn Sie's mir nur gesagt hätten, hätt ich Ihn' de Gummi- schuh aangezogen. Aber ä sue! Nich ä mol Kamaschen hätt Sie gchatt. Itz machen Sie nur den großen Zeh krumm! Ich glaube, der will überhaupt nich mihr. Wie abgestorwen is er. Na, na, wie kann mer nur ä su leichtsinnig sein!" Marie Luise lächelte still versunken vor sich hin und ließ ihre Füße von den treuen alten Händen der Magd reiben und ließ sich ausschalten von ihrem treuen alten Mund. Und beides tat ihr so Wohl, so wohl, während sie, von leisen Schauern durchrieselt, noch iminer seine heißen 5küsse auf ihren Lippen brennen fühlte. Nachdem sie dann vollständig umge- kleidet war, ging sie zu den beiden Männern ins Zimmer. Na, mein Herz, wo hast Du denn so lange gesteckt?" fragte der Major. Ich war noch mit Doktor Grabaus spazieren, im Park." Das ist gescheit. Da warst Du diese Woche wenigstens einmal an der frischen Luft. Wollte er nicht mitkommen?" Er mußte nach Haus." In diesem Augenblick kam Christine mit einem großen Glas Glühwein herein. Das müssen Sie nunter trinken, Frau Major, ä su heeß, wie es is." Aber Marie Luise nippte nur und ließ dann das Glas sinken. Doktor Platcn beobachtete sie mit mißtrauischen Blicken, während auf dem Gesicht ihres Mannes ein sorgen-. volles und doch gütiges Lächeln lag. War's schön im Park?" fragte er. Da leuchteten Marie Luisens verträumte Augen auf, und sie sagte leise: Wunder wunderschön war's." Mit großen Augen sah sie die beiden Männer an, und plötzlich war ihr, als müßte sie sagen:Denkt Euch nur, alS