An anderes war CS mit der italienischen Versgattung. Oft hatman Lingg zum Vorwurf gemacht, daß er für sein Epos dieOktave gewählt. Me hätten sich aber die Recken Marich,GeiseriS, Odoaker im Hexameter ausgenommen, oder wiedie Schilderungen aus dem üppigen Leben Roms odereines zierlichen Landfitzes im griechischen Baustil in der Nibelungen»strophe l Beide Versmaße abwechseln zu lassen, hätte, meint Lingg,die einheitliche Fassung des Gedichts beeinträchtigt; in der Oktavedagegen konnte die ruhig fließende Breite des Hexameters und derstürmische Fortdrang der Nibelungenstrophe vereinigt werden. Mehrals jede andere Strophe war die Oktave geeignet, die wuchtigenQuadern eines Epos wie die Völkerwanderung zu tragen. Kampfder alten, untergehenden Welt mit einer neuen, werdenden I DerAufeinanderprall zweier Weltepochen, der des römischen Heidentumsund der siegenden Christenheit, der Barbaren des Nordens in ihrerHeldengröße gegenüber der hinwelkenden Schönheit des antikenLebens, welche Fülle von Gestalten bot sich dal Und welcherReichtum landschaftlicher Schilderungen vom Nordlicht überden Steppen mid den Klippen der mitternächtigen Meerebis zu den glücklichen Inseln des Südens, vom Hochgebirgebis zu den verlassenen Riesenbauten am Saume der Wüste l" Dasist nach eigenen Worten LiitggS dichterisch« Perspektive. Und so kamdann das Werk zustande, von den, der Dichter in seiner Auto-biographie„Meine Lebensreise" bescheiden, aber im Bewußtseineigenen Wertes sagt:„Ein Buch mehr auf der Welt, ein Buch, dasjedenfalls länger dauern wird, als das Leben dessen, der es ge-schrieben hat." Seit 1868 lag das Epos vor uns, in der Gestalt.die wir heute kennen. Es zerfällt in 23 Gesänge, im Umfange vonzusammen 2570 achtzciligen Strophen oder 20 560 je dreipaang undje einpaarig untereinander gereimten Versen! Ein Riesenwerk alsoin des Wortes höchster Bedeutung I Es mochte weniger an Linggsdichterischem Gestaltungsvermögen gelegen haben, als wohlmehr an der Sprödigkeit des Stoffes, wenn es nicht ge-lang, durchweg jene künstlerische Höhe zu bewahren, die die Musikder Oktave an sich schon erheischt. Andererseits war es auchnicht die Schuld des Dichters, wenn sein Werk keinVolksepoS wurde und wenn es erst 1892 die zweite Auflage erlebte,also eigentlich mehr Bewunderer, als Leser fand. Dennoch wirdeS den Namen seines Schöpfers auch noch späteren Generationenvermitteln.Lingg ist wohl der bedeutendste Epiker des vorigen Jahr-Hunderts. Üeberhaupt liegt die Stärke seiner Kraft und Begabungauf dem Gebiete der Epik und der epischen Lyrik. Wohl hat erneben mehreren Bänden novellistischer Prosadichtungen auch eineganze Reihe höchstbeachtenswerter historischer Dramen geschriebenund mit heißem Bemühen um die Palme deS erfolgreichen Dramatikers gerungen. Allein es fehlt diesen der eigentliche dramatischeNerv, das glaubhaft gemachte Aufeinanderprallen von Gegensätzen,sowie zumeist die den Hörer oder Leser tiefer und nachhaltigerinteressierender Charakterisierung der Gestalten und die Klar-heit der Vorgänge. Lingg ist zu sehr Lyriker, als daß erden Kampf um die Bühne siegreich behaupten konnte. Aberauf dem ihm eigenen Gebiete: wie groß ist er da und welchenverschwenderischen Reichtum an Stoffen und Formen streut er daaus, welche tropische Pracht und Fülle und welche Tiefe und Weiheder Gedanken und Einpfindungen entströmen da seiner Brust!Mannigfach also sind die als Sammelwerke unter bedeutungsvollenNamen wie„dunkle Gewalten"(dreizehn kleinere lyrisch-epische Er-Zählungen),„Schlußsteine",„Lyrisches",„Schlußrhythmen'.„Jahres-ringe" dargebotenen Poesien. Ein großartiger Vildersaal der Welt-geschichte tut sich hier auf. Bis huiem ins Ultimo thulo sagcn-nmnebelter Vorzeit schweift seine mächtig erregte Phantasie. Mitvisionärem Blick greift er Gestalten der Sage und Geschichte herausund stellt sie. nmbrandet von der Woge des Geschicks, umtost vonunheimlich wirkenden Raturmächten oder im Kampf mit Götternund Menschen genießbar plastisch vor uns hin. Niemals gibtLingg alltägliches im trivialen Sinne versifizierender Geschichts-klitterer. Immer steht hinter den Stoffen die zwingendeKraft des schöpferischen Gestalters, dem wir, ob wir wollenoder nicht, folgen muffen. Wühlerischer Schmerz hat anseiner Wiege gestanden, tiefe tragische Weihe entströmt seinen Versen.Nur selten, ja fast me, schlägt der Poet ein heiteres lächelndes Augeauf; und so kommt es, daß wir immer gefaßt sind, ernste, dunkleKlänge zu vernehmen. ES gehört femer zu Lingg's Eigenart, daßer nicht bloß das Geschick und die Tragik der geschilderten Gestalten,sondern auch sich selbst und fem inneres Erlebnis im Spiegel derganzen Welt und Menschheit erschaut. Sonach wird man bei ihmreine Sttmnnmgslyrik, die um ihrer eigenen Musik willenund zur Freude der Komponisten da ist. fast vergeblichsuchen. Er bietet beinah durchweg lyrische Gedankenfrachtbei kühnstem Metapher- und Bilderschmnck, ohne freilich auchimmer deren poetische Auflösung bewältigt zn haben. Seinervulkanischen Glut und Kraft liegt alles Kleinliche im Wege. Siestürzt darüber hinweg, vermag aber selbst das Eisige zu durchglühen,die Starrheit schmelzend zu beleben. Denn es ist, bei aller so zusagen„historischen" Art, doch schließlich das deutsche Gemüt, dasüberall durchbricht. Linggs überreiche Raturlyrik beweist es. Innigund schön ist die Naturwelt im jahreszeitlichen Wechsel in ihren Be-Ziehungen zum Menschen gewiß vou zahllosen Poeten besungenworden, inbrünstiger, apokalyptisch-gewaltiger nie, als von Lingg.Als Beispiel hierfür diene sein Gedicht„Nachtslille'tWer einsam wacht,Kennt das heimlich« LebenIm Schweigen der Nacht,Ihr stilles Weben:Wie die Sorge nagt,Wie der Totenwurm zimmert,Me das Menschenherz zagtUnd das Elend wimmert;Wie verborgen rinntAufs Ktssen die Träne,Wie den Flug beginntDie Nachtphaläne.Wie das Raubtier schleicht«Wie von den PfadenDer Sterne reichtHerüber em Faden,Und wie vom LaufDes einen zum andernHerab, hinaufDie Seelen wandern.Lmggs Dichtungen, ssagie ich vorhin, sind stets der ganzen Mensch-heit zugewandt. Nicht rückschauend allein weilt seine Muse bei demhistorisch Gewordenen; sondern eS entspricht der Sendung des echtenPoeten, daß er auch die Erscheinungen seiner Zeit, also die Prozesse desWerdenden. Neuen aufmerksam verfolgte. Das soziale Elend undWehe der Besitzlosen ist nicht an Lingg vorbeigegangen, ohne desDichters anteilnehmenden Schmerz zu erregen. Man lese sein er»schüttelndes.Lied an die Armen":„Ihr Armen mit dem dürren Stab.Der nimmer glüht und blühet,Ihr geht die Erde auf und ab,Verzehrt und abgemühet,Ihr hoffet leinen SonnenscheinUnd fürchtet keinen Regen,Gedeiht das Korn, gerät der Wem,Für euch isfs doch kein Segen.Das Jahr sei noch so früchtereich,Bleibt euer Elend doch sich gleich.Wann esset ihr euch satt an Brot?Ja, wenn die Steine blühen!—>Ihr säet Müh' und erntet Not.Und euer Feld find Mühen.Mit Distel, Dorn und HagebuttBlüt euer Garten immer,Und euer Weinberg steht auf Schutt.Und euer Gott ist Glimmer;Mit Wolken deckt die Nacht euch zu,Und Staub und Tau sind eure Schuh'.Ihr ließet gern beim FestgelagVom Sticht den Schwelger gleiten;Ihr wolltet nichts, als Tag für TagEin Leben euch erstreiten.Der Marder hat sein fich'reS HauS»Der Hamster hat sein Essen;Nur euch verfolgt und stößt man anS,Nur ihr seid ganz vergessen.Ja, groß ist euer Reich und weit,So daß eS schier gen Himmel schreit."Er preist die Wahrheit und Gerechtigkeit; und der Siebzigjährigedonnert die Gemeinheit nieder. Denn der Mann und Dichter hat esstets mit der Freiheit gehalten. Sie war sein Jugendidcal gewesen,und der Abglanz von ihm blieb in seinem Herzen. Als„Gemengltter Taten" ericheinen ihm: der Völkerfriede, die Hülfteiche Bruder»liebe, die vereint kämpfende Forschung und Wissenschaft, die Poesieund die Künste. Sie werden„für ein künfttges Geschlecht Mensch»lichkeit und aller Völkerbünde höchstes Gesetz und erstes Recht" be-gründen. Des Dichters Glaube an dies goldene Zeitalter derMenschheit ist unerschütterlich; die nachfolgende Strophe aus demGedicht„Dodona" klingt wie ein Vermächtnis des Toten an djöLebendigen:„Von Aegyptens PyramidenBis zu Delphis Priestcrin,Bis zu Ganges' TempelfriedenHenriche einer Lehre Sinn:Trost zu spenden. Schmerz zu lindern,Licht zu wecken weit und breit,Freiheit allen Erdenkindern,Freiheit, Liebe, Menschlichkeit."__ ErnstKreowski.Kleines Feuilleton.— Tie Tragödie eines Arztes, lieber die letzte Lebenszeit deIdieser Tage in Breslau verstorbenen Chirurgen Mikulicz be-richtet das„Neue Wiener Tagblatt": Gerade jenes Leiden, das er slühäufig siegreich bekämpft hatte, gegen das er eine neue, sinnreiche.bewährte Operationsmethode angegeben hatte, sollte seinen Unter»gang herbeiführen. Einem Magenkrebs sollte er zum Opfer fallen,.er, den unzählige Patienten aus aller Welt wegen dieses Leidensum Rat gefragt hatten.Es war vor Weihnachten. Im Hause des berühmten Chirurgen.rüstete man freudigen Gemütes zum schönen Familienfeste. Auch!der Meister selbst machte seine Einkäufe, besorgte die großen undkleinen Ueberraschungen und war so ruhig und gefaßt, daß keineraus seiner Umgebung, selbst das von Liebe geschärfte Auge seinernächste» Angehörigen nicht, merken konnte, daß innerlich im Herges