Zlnlerhaltungsblatt des Horwürls Nr. 136. Sonntag, den 16. Juli. 1905 (Nachdruck verboten.) 2] Gobseck. Von Honorö Balzac. Deutsch von Alfred Brieger. ..Guten Tag. Papa Gobseck." redete ich ihn an. Er wandte mir seinen Kopf zu und seine dichten, schwarzen Augenbrauen näherten sich unmerklich. Diese charakteristische Bewegung kam bei ihm dem herzlichsten Lachen des Süd- franzosen gleich. „Sie sehen ebenso übelgelaunt aus. wie an jenem Tage. als man Ihnen den Bankrott des Buchhändlers anzeigte, in dessen Geschicklichkeit Sie soviel Vertrauen gesetzt haben und dem Sie dann doch schließlich zum Opfer gefallen sind." „Opfer?" fragte er mit einem Ausdruck des Staunens. „Hat er nicht, um seinen Akkord zustande zu bringen, seine Schuld bei Ihnen mit Wechsel geordnet, die mit seiner in Konkurs befindlichen Handelsfirma gezeichnet waren; und hat er dann nicht, als er wieder zu Geld kam, von Ihnen den Abzug verlangt, der mit der Quote des Akkordes im Ein- klang stand?" „Er war ein schlauer Kopf," entgegnete er,„aber ich habe ihn mir schließlich doch gehols." „Haben Sie dann vielleicht einige Wechsel, die zum Protest gehen müssen? Wir haben heute den dreißigsten, glaube ich." Zum erstenmale sprach ich von Geld zu ihm. Er hob seine Augen mit einem belustigten Ausdruck zu mir in die Höhe und dann sagte er mit seiner sanften Stimme. deren Tonfall dem Klange einer Flöte glich, die ein Schüler dieser entlockt, wenn er sie noch nicht so recht zu handhaben versteht. „Sie machen mir Spaß." „So macht Ihnen also doch etwas hin und wieder Spaß?" „Glauben Sie denn, daß es keine anderen Poeten gibt, als die, die ihre Verse drucken lassen?" fragte er mich, indem er die Schultern hochzog und mir einen mitleidigen Blick zuwarf. In diesem Kopfe sollte etwas von Poesie verborgen sein, dachte ich. Damals kannte ich eben noch nichts von seinem Leben. „Welches Leben könnte so glanzvoll und reich sein, wie es das meine ist," rief er, während ein Feuer in seinen Augen aufleuchtete.„Sie sind noch jung, Ihre Gedanken sind die, die Ihnen Ihr Blut eingibt. Sie sehen die Frauengesichter im Scheine des flackernden Feuers, das Ihr Inneres versengt. Ich sehe nichts mehr als die verbrannten Kohlen. Sie glauben an alles— ich glaube an- nichts. Bewahren Sie sich Ihre Illusionen, wenn Sie können. Ich werde Ihnen also jetzt eine Lebensabrechnung auf- stellen. Sei es, daß Sie in der Welt umHerreisen, sei es, daß Sie an der Seite Ihrer Frau vor Ihrem häuslichen Kamin- feuer sitzen bleiben— eines Tages muß doch ein Alter kommen, wo das Leben nichts anderes ist, als eine Gewohnheit, der man in einer bestimmten bevorzugten Umwelt mechanisch nachgibt. Dann besteht unser Glück in der Betätigung unserer Fähig- leiten, die auf Tatsächliches und Bestehendes angewandt werden. Außerhalb dieser beiden Prinzipien ist alles andere falsch. Meine Anschauungen haben auch wechseln müssen, wie die aller Menschen. Ich habe sie unter jedem Breitengrade geändert. Was man in Europa bewundert, das wird in Asien bestraft. Was in Paris ein Laster ist, das wird, sobald man über die Azoren hinaus kommt, zur Notwendigkeit. Nichts ist hienieden feststehend und absolut— es gibt nur eine Anzahl Vereinbarungen und Kompromisse, die unter den verschiedenen Klimaten modifiziert werden. Für den Menschen, der sich so- zusagen in alle gesellschaftlichen Gußformen eingefügt hat, für den sind Ueberzeugungen und Moralthesen nur wertlose Worte. Dann bleibt in uns nur das einzige wahre Gefühl zurück, mit dem die Natur uns ausgestattet hat: der Selbst- erhaltnngstrieb. In Ihrer europäischen Gesellschaft heißt dieser Instinkt: persönliches Interesse. Wenn Sie soviel und solange gelebt hätten wie ich. so wüßten Sie, daß es nur einen einzigen materiellen Gegenstand gibt, dessen Wert feststehend genug ist, damit ein Mensch sich mit ihm befassen kann. Dieser Gegenstand ist das Gold. Das Gold stellt alle Abarten menschlicher Kraft dar. Ich bm viel gereist, ich habe gesehen, daß es überall in der Welt Ebenen und Berge gibt. Die Ebenen langweilen, die Berge ermüden: Die Oertlichkeit als solche ist also einflußlos. Und was nun die Sitten anbetrifft, so ist der Mensch überall der gleiche? uberall tobt der Kampf zwischen arm und reich, überall rst er unvermeidlich. Daher ist es besser, der Ausbeuter als der Ausgebeutete zu sein. Ueberall finden sich muskelstarke Menschen, die arbeiten, und lymphafische Menschen, die sich quälen. Ueberall sind die Freuden dieselben, denn überall brauchen sich Sinne und Gefühle ab und es bleibt nur eine einzige Empfindung zurück: die Eitelkeit. Die Eitelkeit ist jederzeit die Zusammenfassung des eigenen Ichs. Die Eitel- keit befriedigt sich nur in Strömen Goldes. Unsere Launen, die Wünsche unserer Phantasie erfordern Zeit, Sorgfalt oder physische Mittel. Nun wohl, im Golde ist alles als Keim verborgen und nur das Gold vermag all.? als real zu schaffen. Man muß verrückt oder krank sein, wenn man ein Vergnügen darin findet, allabendlich Karten zu klopfen, um dann zu wissen, ob man ein paar Sou verloren oder gewonnen hat. Nur die Dummen können ihre Zeit darauf verwenden, in Er- fahrung zu bringen, was in der Welt vor sich geht, ob Madame Soundso allein oder in Gesellschaft auf ihrem Kanapee ge- legen hat, ob sie mehr Blut als Lymphe, mehr Temperament als Tugend besitzt. Nur die wahren Toren können glauben, daß sie ihren Mitmenschen nützlich sind, wenn sie sich damit befassen, politische Prinzipien auszutifteln, um auf diese Weise Ereignisse zu leiten, die doch immer unvorhergesehen eintreffen. Nur alberne Menschen können Gefallen daran finden, von Schauspielern zu sprechen und ihre Worte nachzuplappern, täglich dieselbe Promenade zu unternehme,:, die sich allerdings auf einem etwas größeren Raum abspielt, als die des Tieres in seinem Käfig: sich für andere anzukleiden und für andere zu essen: Genuß und Wonnen über ein Pferd oder einen Wagen zu empfinden, den sich der liebe Nachbar erst drei Tage später anschaffen kann. Ist das nicht in wenigen Worten das Leben Eurer Pariser ? Lassen Sie uns doch ihr Dasein von einem höheren Standpunkte betrachten, als sie es selbst sehen. Das Glück besteht entweder aus starken Erregungszuständen, die das Leben abnutzen, oder aus regelmäßigen Beschäftigungen, die aus dem Dasein einen Mechanismus herstellen, der wie ein Stundenwerk arbeitet. Jenseits dieses Glückes gibt es eine Neugier, die man als edel bezeichnet und die darauf ausgeht, die Geheimnisse der Natur zu erforschen oder künstlichen Ersatz für ihre Elemente und Erzeugnisse zu finden und zu erfinden. Ist das nicht in zwei Worten das Wesen der Kunst und der Wissenschaft, die Erklärung für Leidenschaft und Ruhe? Und weiter— die Gesamtsumme menschlicher Leiden- schaft, die durch das Spiel und Gegenspiel Eurer gesellschast- lichen Begehrlichkeit in die Höhe getrieben wird, paradiert an mir, der in absoluter Ruhe lebt, in langem Zuge vorüber. Und dann Euer wissenschaftlicher Forschungsdrang, jener Kampf, in dem der Mensch immer unterliegen muß. Ich ersetze ihn durch ein systematisches Eindringen in das Räder- werk, das die Menschheit in Bewegung hält. Kurz und gut— ich befinde mich, ohne in einem Zustande der Ermüdung zu sein, im Besitze der Welt und die Welt kann mir nichts an- haben. Nun hören Sie, wenn ich Ihnen jetzt die Ereignisse des heutigen Vormittags erzähle, so werden Sie das ganze Maß meiner Freude erfassen können." Er erhob sich, schob den Riegel seiner Tür vor, zog einen Vorhang aus altem Stoff zu, daß die Ringe an der Eisen- stange kreischten, und setzte sich dann wieder auf seinen Platz. „Heute morgen," begann er,„hatte ich nur zwei Wechsel einzukassieren: die anderen waren schon gestern von einigen meiner Kunden an Zahlungsstatt angenommen worden. Um so mehr Verdienst! Bei der Diskontierung ziehe ich nämlich die Fahrt, die ich zur Einkassierung machen muß, schon im voraus ab, indem ich vierzig Sous für eine Droschke be- anspruche. Das fehlte noch gerade, daß mich ein Kunde für einen mageren Diskontverdienst von sechs Frank durch ganz Paris hetzte— mich, der niemandem gehorchen braucht und überhaupt nur sieben Frank Abgaben zahlt! Der erste Wechsel im Werte von tausend Frank wurde nur seinerzeit von einem jungen Mann gebracht, von einem feinen
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22 (16.7.1905) 136
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