- 1006 war bleich geworden. Aber im nächsten Moment glühte sein Gesicht dunkel. Bengel," schrie er auf,Du niederträchtiger Aufpasser. was willst Du hier? Was machst Du? Warum schläfst Du noch nicht? Donnerstag und Freitag, ich werd' Dich Mores lehren!" Die jähe Wut schüttelte ihn. Er hatte getrunken, das gab ihm Mut. Alles was sich an dumpfem Groll in ihm gesammelt, brach heraus in rauhen, abgerissenen Worten. Und der Refrain war immer wieder: sein Sohn wäre ein niederträchtiger Aufpasser, der seinem Vater nichts gönne, der ihm auflauere, der ihn, den eigenen Vater, kontrolliere' Wortlos ließ der kleine Menne alles über sich ergehen. Mit den hochgezogenen Schultern und dem geduckten Kopf stand er vor dem Bette. Tie schwache Brust arbeitete heftig. Was sagst Du? Willst Tu widersprechen?" Nein, Vater. Ich wollte Dich... nur bitten, mir die fünfzig Pfennig zu geben... für den Spaziergang, den wir alle machen... wir müssen das Geld morgen mit- bringen. Deshalb blieb ich wach." v"Geld," lachte der Alte grimmig,wer will kein Geld? Alle wollen sie Geld von mir." Und plötzlich ward er von neuem aufgeregt. Wer hat Dich ins Gymnasium gebracht? Ich? Hoho, das soll mir einer nachsagen! Deine Mutter war's die Frauenzimmer wollen ja immer hoch hinaus und das Söhnchen soll mehr werden als ein versoffener Botenmeister, soll auf den Vater herabsehen, die Nase rümpfen Bengel, ich sag' Dir! Laß Dir das Geld von Deiner Mutter geben, warst ja immer ihr Liebling, aber mich laß zufrieden! Keinen Pfennig keinen Pfennig merk' Dir's!" Der kalte Schweiß trat dem kleinen Menne auf die Stirn. Er sollte nichts bekommen er sollte morgen vor der ganzen Klasse so dastehen. Ehe er sich selbst rechl besann, hatte er sich vor dem Vater auf die Knie geworfen. Gib mir's noch einmal, Vater... liebster, bester Vater, nur diesmal noch! Nimm mich fort vom Gymnasium, wann Du willst, ich sag' ja kein Wort, aber gib mir das Geld heut', sonst weiß ich nicht, was ich tu'." Auf den Knien rutschte er näher, die großen Augen in verzweifeltem Flehen auf die etwas starr blickenden des Vaters gerichtet. Einen Moment stutzte der Botenmeister. Hier schrie die Verzweiflung. Die Verzweiflung eines Kindes, die furcht barer ist als jede andere. Die Verzweiflung seines Kindes. Er brummte und schien ernüchtert zu werden. Unbeholfen griff er in die Tasche, zog das Portemonnaie heraus und öffnete es. Fünf zig Pfennig," murmelte er.Sind das... fünfzig Pfennig?" Nur zehn, Vater." Ich Hab' keine... fünfzig Pfennig. Brauch' sie... selber. Da... wieviel sind das? Ein zwei drei Groschen, mehr Hab' ich nicht. Ter Schuft hat mich heute wieder mal schön ausgeplündert. Immerzu Schnäpse..." �ein Haupt sank auf die Brust. Menne Knoll griff nach dein Portemonnaie. Dreißig Pfennig nicht mehr. Er wog sie in der heißen Hand. Da ermunterte sich der Alte. Mein Geld, verdammter Aufpasser," lallte er und riß das Geldtäschchen an sich.Drei Groschen... ich will meine ... drei Groschen!" Hier sind sie, Vater." Die Stimme war tonlos. Mühsam erhob sich Menne Knoll und ging ohne Gutenachtgruß in seine Kammer. Nun war alles aus. Schlaflos, mit glühendem Kopfe, wälzte er sich auf seinem Lager hin und her. Es stach ihm in den Schläfen und im Hinterkopf. Und immer wieder nur der eine Gedanke: morgen von zehn bis elf, morgen von zehn bis elf! Er konnte zu Hause bleiben. Er hatte noch nie gefehlt und es würde ihm schwer fallen, schon allein deshalb, weil er dann wieder aller Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Aber er konnte es. Einen Augenblick klanimerte er sich an diesen Gedanken. Doch was sollte es helfen? Das Waldfest war in etwa zehn Tagen. Entweder er mußte alle diese zehn Tage fehlen, oder er mußte den Beitrag doch abliefern. Und ein zehntägiges Ausbleiben war unmöglich. Wohin er auch sah es gab keinen Ausweg. Er war verloren. Freunde, die es ihm leihen konnten, hatte er nicht. Wer traute auch dem Sohne des Trunken- boldes? O, wenn seine Mutter lebte! Seine liebe, kluge, gütige Mutter! Und er lag mit offenen Augen in der dunklen Kammer und dachte an sie. Immer von neuem rief er sich ihr Bild vor die Seele, tausend kleine Erlebnisse fielen ihm ein, auf dem Stuhl hier, wo jetzt seine Sachen lagen, hatte sie gesessen, wenn sie ihn überhörte und die Vokabeln fragte damals noch die leichten lateinischen Vokabeln: mensa , der Tisch und amo, ich liebe. Jetzt waren schon die griechischen daran. Die hätte seine Mutter wohl nicht lesen können. Von diesem zu jenem spann Menne Knoll die Gedanken. Und wenn einer abriß und dann wieder jäh die Angst vor morgen auftauchte, strengte sich der Kleine förmlich an, wieder an seine Mutter zu denken, die ihn so sehr geliebt hatte, die ihn auch heute Angst und Verzweiflung vergessen machen sollte. Und das Häppchen erbarmte sich ihres Kindes. Sie lächelte immer freundlicher, streckte die Arme aus, nahm ihn wieder auf den Schoß, hörte die Vokabeln ab und schenkte ihm gegen Morgen den Schlummer, ob er auch nur kurz und unruhig war. *** Ter alte Oberlehrer, der den französischen Unterricht gab, hatte schon ein paarmal nach der Bank hinübergesehen, auf der Menne Knoll saß. Endlich tippte er mit dem Bleistift aufs Katheder und sagte:Fehlt Dir etwas, Knoll? Wenn Tu nicht wohl bist, geh' nach Hause." Die Köpfe wandten sich wie mif Kommando. Der Sohn des Botenmeisters erhob sich verwirrt, stammelte ein paar knapp verständliche Worte und setzte sich wieder. Der Unterricht ging weiter. Um neun Uhr, in der Fünfminutenpause, zog Otto Seydcl, der Sohn des Tierarztes, lachend seinen Federkasten auf und sagte: Habt Ihr denn zu nachher die Fünfgroschenstücke bei- sanunen, Kinder? Ich hab's ja fein gemacht. Hab' meinem Alten einfach vorgeschwindelt, wir müßten eine Mark mit- bringen. Da gibt's für den Rest noch zwei Päckchen Zigaretten." Und triumphierend holte er aus dem kleinen Fache des Federkastens, das eigentlich für den Radiergummi bestimmt war, zwei blanke Geldstücke hervor. Menne Knoll starrte ihn an. Da saß der Otto Scydel zwei Fünfzigpfennigstücke gehörte,: ihm sein Vater hatte sie chm anstandslos gegeben. Und er schrie nicht vor Freude er lachte nur über die gelungene List. Und hier saß er! Gar nicht weit davon. Er, der sein Seelenheil und alles jetzt hingeben würde, wenn er das eine ganz überflüssige Geldstück besäße, wenn er nachher vorgehen könnte, es«ufs Katheder legen und rrchig an seinen Platz zurückkehren. Seit der gestrigen Nacht drehte sich alles in seinem Kopse. Ein heißes Rad lief da herum, bald schneller, bald langsamer, und an einer bestimmten Stelle ward immer eine ganz feine Nadel hineingeschlagen, das stach und tat weh. Die neue Stunde begann, ging vorüber. Die große Pause kam. Alle Schüler mußten die Klassenzimmer ver- lassen und eine Viertelstunde auf dem geräumigen Turnplatz lustwandeln. Man plauderte dort, verzehrte sein Butterbrot und drückte sich wohl auch in eine Ecke, um sich das Pensum noch einmal anzusehen. Menne Knoll hatte kein Butterbrot mit. Aber daran dachte er nicht. Er dachte an Otto Seydel , den Sohn des Tierarztes, und an die beiden blanken Fünfzigpfennigstücke. Es war ihm vorhin ein Einfall gekommen mitten in die Algebra hinein. Wenn er allen Mut zusammennahm und Otto Seydel bat. ihm das Geld zu leihen? Nur ein paar Tage, ein, zwei Wochen was wußte er! Besser, vor einem blamiert, als vor allen..,,,, Wie ein zitterndes Hündchen, daS sich nicht hcrantraut, umschlich er in der großen Pause den Mitschüler. Endlich wagte er es. Ich möchte... Dich um was bitten, Seydel. Emen Augenblick nur." Verwundert sah der den scheuen Menne Knoll, der lonst mit niemandem freiwillig sprach, an. Es ist nämlich.,. ich habe jetzt das Geld nicht. j«