Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 41.

Mittwoch, den 28. Februar.

( Nachdrud verboten.)

1906

gebilde wieder aufblühten. Dan schwand all seine Traurig keit, und wenn der Vollmond sein Licht in breiten Fluten durch die unverhängten Fenster des Schlafraumes ergoß, glitt er

Die Eroberung von Jerufalem. leise aus dem Bette, um darunter das heilige Zauberbud

2]

Noman von Myriam Harry  . Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen von Alfred Beutet.

2.

Elias Jamain hatte seinen Vater kaum gekannt. Von abenteuerlicher Gesinnung und lebhaftem Temperament hatte dieser sich bereits drei Jahre nach seiner Verheiratung zur Fahrt nach fernem Glück eingeschifft, von der er nicht mehr zurückgekehrt war.

So blieb das Kind allein bei seiner Mutter, einer frommen, liebevollen Waise, die ihren ganzen Weisheitsschat aus einer alten Bibel mit kolorierten Bildern geschöpft hatte. Darin lernte er in der langen Sommerdämmerungszeit lesen. Wenn er sein Vesperbrot verzehrt hatte, setzte sie sich mit ihm in die Bogenlaube des kleinen Gärtchens und erklärte ihm, mit dem Buche auf dem Schoße, die rührenden und zu­gleich grotesken Bilder, die durch den überzeugten Ton der Mutter und ihre zart poetische Einbildungskraft Leben gewannen.

Aber besser noch als in den vergilbten Blättern las der Knabe in den klaren Augen seiner Mutter; dort sah er den Himmel des Orients sich widerspiegeln, wo die Engel empor­und herniederschwebten, dort die Feuersäule, die Tag und Nacht vor Israel   einher wanderte, oder die blauschimmernde Reede von Eziongaber, wo Salomons spezereibefrachtete Flotte zur Fahrt nach dem fernen Ophir die Segel hißte. Manchmal besuchte sein Großontel, ein alter Edelmann aus Languedoc  , der den ganzen Sommer über auf dem Lande wohnte, sie im Winter in ihrer kleinen Stadt.

Seiner Zeit hatte er mit Chateaubriand die Reise nach Palästina gemacht und einige Reliquien von dort treu auf­bewahrt. Aus den Taschen seines langen Ueberrodes 30g er ein kleines Blechfläschchen, welches Jordanwasser enthalten hatte, ein bertrocknetes, hartes Dorngebilde, das er seine Rose von Jericho  " nannte, und einen Briefbeschwerer aus Olivenholz  , auf dem in Haut- Relief das Wappen Jerusalems  : ein großes, viereckiges, von vier kleineren Kreuzen flankiertes Kreuz geschnitzt war. Rund herum lief ein Kranz schwarzer Lettern, die der Onkel für hebräische erklärte, in denen Elias aber eher Abbildungen von Kamelen, Tabernakeln und Zelten zu erkennen glaubte. Später lehrte der alte Edelmann ihn, die fremdartigen Buchstaben zu entziffern und er erfuhr ihre Bedeutung: Jungfrau, Tochter Zions, glücklich der Sterb­liche, der im Schatten deiner Mauern ruht!"

Und auch ohne den wahren Sinn dieser Worte zu be­greifen, liebte Elias deren geheimnisvolle Feierlichkeit. Manchmal wiederholte er sie, ganz leise, wie eine Zauber­formel.

Oft auch begann, wenn der Knabe sein Näschen in das alte Blechfläschchen steckte, um das eingebildete Parfüm des Jordanwassers einzuriechen, und die Rose von Jericho im Wasser eines Napfes ihre dornigen Aeste ausstreďte, das Ge­dächtnis des Großonfels in gleicher Weise wieder aufzublühen. Dann flammerte er sich an sein wadelig gewordenes Ge­dächtnisspalier und wurde nach und nach zum Krieger, Märtyrer und Pilger. Dann war er auf der Jagd hinter türkischen Piraten her, fiel wilden Beduinen in die Hände, vergoß auf Christi Grabmal Tränen und beendigte seine romantisch exaltierten Erzählungen stets mit Ausfällen gegen die jetzige religiöse Gleichoültigkeit und dem Bedauern über die Seltenheit der Pilgerfahrten ins Heilige Land.

Im Alter von zehn Jahren verlor Elias Jamain kurz nach einander seine Mutter und seinen Großonkel. Nun stand er allein da in der Welt, fast ohne jedes andere Erbe als die Reliquien aus Jerusalem   und die Bilderbibel.

Eine Brüderschale nahm ihn auf. Dort lebte er ein flägliches, bedrücktes Leben ohne liebende Pflege und ohne Herzenswärme.

Doch in der Nacht erhob seine kleine glühende Seele sich, wenn seine Erinnerungen lebendig wurden und seine Traum­

hervorzuziehen, das für sein Waisenknabenschränkchen zu um­fangreich war. Auf den Fliesen sigend, und von Mondstrahlen umflutet, blätterte er in dem Buche herum.

War er dann wieder eingeschlafen, so trämute er, daß er mit seiner Mutter und seinem Onkel nach Aegypten   floh, während die Palmen ihnen auf dem Wege zufächelten, und der Schrei der Adler hoch oben am Himmel sie grüßte. Oder aber er befand sich allein im Tempel des Herodes, wo er den Rechtsgelehrten die Schriften der Propheten erklärte und seine eigene Stimme erweckte ihn: Jungfrau, Tochter Zions, glücklich der Sterbliche, der im Schatten Deiner Mauern

ruht!"

Man bestimmte ihn für den geistlichen Stand, aber gerade als er in das Seminar einzutreten im Begriff war, gab sein Vater zum ersten Male ein Lebens- oder vielmehr Todeszeichen von sich. In Indien   war er gestorben- halb verrückt geworden von Opium, Liebe und Sonnenglut und hinterließ ihm etwa hunderttausend Frank.

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Elias nahm nun seine Studien wieder auf, zunächst an der Universität von Montpellier  , dann in Paris  , London  , Wien   und sogar in Upsala   in Schweden  , wohin ihn der Ruf des dortigen Lehrstuhles für orientalische Sprachen lockte. Semitische Sprachen und Theologie betrieb er leidenschaftlich, und wunderbarerweise beeinträchtigte sein Wissen seinen Glauben nicht; im Gegenteil es stärkte ihn, vielleicht weil er von poetischer und sentimentaler Natur- die Religion als ein göttliches Gleichgewichtsgesetz betrachtete, dessen seine Seele bei seiner frankhaften Empfindlichkeit gegen den bru­talen Realismus bedurfte. So schritt er durch Lauheit und Zweifel, ohne daß sie ihn zu überwinden vermochten. Auch die Liebe lernte er fennen, wurde jedoch bald davon enttäuscht, da er in jedem Weibe ein Traumgebilde suchte, das er un­möglich erlangen fonnte. Seine kräftige Natur bändigte er durch förperliche Anstrengungen und unermüdliche Arbeit. Ein platonisches, sehr banales Idyll mit einer schwedischen Studentin, das an den Ufern eines Fiord ein tragisches Ende nahm, raubte ihn den Mut zu weiteren Liebeleien, und so fand er sich im Alter von sechsundzwanzig Jahren mit der ganzen Jungfräulichkeit seiner Ueberzeugungen und dem ganzen Wollen seines Herzens wieder von selbst zurecht.

Egypten zog ihn an. Ein sechsmonatlicher Aufenthalt in Kairo   machte ihn mit arabischer Sitte und Sprache boll­fommen vertraut. Dort schloß er auch Bekanntschaft mit Lazaristen  - Brüdern, und dieses Zusammentreffen entschied sein Geschick. Sie wußten ihn auf's tieffte für das erschütterte Ansehen der römischen Kirche zu interessieren und baten ihn, eine Mission im heiligen Lande zu unternehmen, durch welche der Eifer der Gläubigen wieder entflammt würde, vielleicht sogar ein neuer Kreuzzug gegen die Ungläubigen des Abend­landes zustande käme. Nur er könnte einen derartigen Versuch glücklich durchführen, da er einer von jenen seltenen Aus­erwählten sei, deren wissenschaftliche Gelehrtheit sich auf christ. licher Ueberzeugung aufbaute.

Nach und nach begeisterte sich Elias für diese Einflüste rungen der Priester. Sein überschwängliches, naives Gemüt berauschte sich an dem Traume, der ihn schon in seinen schlaf­losen Kindernächten geblendet hatte, und er beschloß, Jerusa lem dem Glauben zurückzuerobern, nicht durch das Schwert, sondern durch seine archäologische Wissenschaft, diese große Beschwörerin vergangener Zeiten.

Aus dem Staube würde er die heiligen Spuren des Kults unserer Vorväter wieder ans Licht bringen; Schritt für Schritt würde er dem Christentume auf seinem Leidens­pfade und auf seinem Ruhmeswege folgen. Seinen Hochmut würde er dem heiligen Grabe knieend zu Füßen legen und in schönen, begeisterung durchglühten, wissenschaftlich unanfecht­baren Schriften die Gleichgültigen entflammen, die Zweifeln­den stärken.

Von dieser Gewißheit getragen war Elias Jamain am Abende vor Palmsonntag in Jerusalem   angelangt, und zwar schon so spät in der Nacht, daß er nichts mehr von der Stadt