162 gesehen hatte, als das wenige Schritte vom Jaffa  -Tore ent- fernt gelegene Zotel de la M6diterran6e, in dem er abge- stiegen war. In den ersten Wochen schützte der Zufluß von Reisenden ihn vor der Neugier des Hotelwirtes und der Jerusalemer  Bevölkerung, und er konnte sich nach Belieben unter die Menge von Russen, Syriern, Engländern und Bulgaren   mischen, konnte die Klöster, Kirchen und Grotten besuchen, konnte alle Fußspuren und Handabdrücke konstatieren, sich von den blutigen, an derSeufzersäule" vergossenen Tränen über- zeugen, sowie von dem lobredenden Munde des Steines, der den Herrn gepriesen haben würde, wenn Menschenzungen ge- schwiegen hätten. Er folgte der Passionsprozession, wo eine Strohpuppe, die ein Kreuz schleppt, an den Stationen derVia dolorosa  " Halt macht; er schritt bei dem Zuge uni die Umwallung hinter den Büßern her, die mit nackten Füßen und aschbestreutem Kopfe einherwankten. Er wohnte der mitternächtlichen Zere- monie desHeiligen Feuers" bei, das aus demGrabmal" hervorsprüht und den Frauen Fruchtbarkeit verleiht. Er be- kreuzigte sich vor allen Altären und allen Kapellen, vor der schwarzen Jungfrau der Kopten, die von magierähnlichen Priestern verehrt wird; im Heiligtum der Armenier, wo Archidiakone mit langen, wallenden, bis auf die von Gold- stickerei starrenden Talare herabreichenden Haaren wie byzan- tinische Kaiserinnen aussehen: in den russischen Basiliken, wo die Popen sich auf dem Goldgrunde der Heiligenbilder drehen und beim Ableiern unnachsprechlicher Kirchengesänge die dem Gottesdienste Beiwohnenden mit Rosenwasser besprengen. Toch als nach Abreise der Pilger die Stadt wieder in ihre sommerliche Langeweile verfiel, fing sie an, sich über diesen jungen, großen Fremden mit der Denkerstirn und den schönen, grauen, ernsten und gläubigen Augen zu beunruhigen. Sein Name und der Zweck seiner Reise wurden ruchbar. Da stürmten sein Hotel die Repräsentanten der verschiedenen Kulte, von denen jeder sich bemühte, ihn für seine eigene Sache zu gewinnen und ihn zu überzeugen, daß die in der Kirche seines Nachbarn verbreitete Lehre eben eine Irrlehre sei. Händler und Dragomane belästigten ihn mit dem Angebot geweihter Kreuze, Rosenkränze. Bilder und anderen Vor- schlügen mehr heidnischer Art. In de» mit heiratsfähigen Töchtern gesegneten katholi- schen Familien beklagte man sich nicht mehr über die Hitze. War sie denn nicht eine mächtige Verbündete für die in der heiligen Stadt vorgeschriebene kokette Mode: Mousseline, leichte und durchsichtige Stoffs, diskreten Ausschnitt? Auf Eselsrücken durchtrabten die würdigen Mamas geduldig die im Halbschatten liegenden Gäßchen des Bazarviertels und wagten sich in den Ghetto-Schutt, kauften bei den türkischen Händlern die Stoffe ein und brachten sie den jüdischen Schneidern zur Anfertigung der Roben. Tann lud man Herrn Jamain zu Ausflügen nach den Salomonischen Teichen" oder denStällen des Herodes  " ein. Und dabei richtete man es so ein, daß sich unterwegs ein Sattel lockerte und herabglitt, oder daß in der Dunkelheit einer Grotte ein Licht plötzlich verlöschte. Dann entwickelte sich ein Tändeln und Händedrücken, eine unschuldige Spielerei, bei der man nie vergaß, das Gleichnis von den klugen Jung- frauen zu zitieren, die bereit waren, dem Bräutigam ent- gegenzugehen. Aber der junge Gelehrte fand wenig Geschmack an diesen Verführungskünsten der unter dem Korkhute mit Sommer- sprossen und Hitzflecken übersäten jungen Damen von Zion, die in Kleidern, welche zu einer ersten Kommunion gepatzt hätten, auf die Maultiere kletterten und deren zartes Weih- rauch-Parfllm eine leise Beimischung von Patschuli besaß. Gleichgültig ließen ihn auch die merkwürdigen tollen Jungfrauen Nieder-Jerusalems  , zum größten Teil Nege- rinnen, die auf der Höhe der Moncharabis mit hennagefärbten Fingern Pfefferminzzweige entblätterten und die Blätter vor seine Füße streuten, lFortsetzung folgt.» (Nachdruck verboicn.) Vie mlTilcKe Externe. Eine große Zahl derjenigen, die in Rußland   das Gymnasial- Reifezeugnis besitzen und das Recht haben, eine Hochschule zu be- suchen, gehören zur sogenanntenExrerne", einer Art von Auto- didakten, die, ohne eine höhere Schule zu absolvieren, mit den Gym- nasiasten zusammen das Abiturienteneramen bestanden haben. Jeder dieserExternen" hat seine originelle Vergangenheit, jeder könnte einen eigenartigen Roman seines Lebens schreiben; der Lebensgang eines solchen Mannes hat mit dem eines gewöhnlichen Russen nichts gemein Und dennoch I Wenn man den Ursachen nach- forscht, so ist es im letzten Grunde immer dasselbe: Tie russischen Verhältnisse! Die Externen rekrutieren sich aus allen möglichen Berufen und auch Berufsständen. Ter eine war einst Beamter, ein anderer Lehrer, ein dritter Geistlicher, ein vierter Kaufmann, wieder ein anderer Arbeiter usf.; von allen kann man zumeist nichts Be- stimmtcs sagen außer dem WorteUnruhiger". ES wird daher nicht ohne Interesse sein, den Umständen nachzuspüren, die solche«un­ruhigen" Elemente schaffen. Ten Anfang mit ihrem sonderbaren unstätcn Lebenswandel machen diese Leute gewöhnlich schon im Kindesalter und auf der ersten Schulbank. Die von den Behörden erlassenen Schulordnungen sorgen dafür oder haben wenigstens das Ziel, in dem Knaben den selbständig denkenden Menschen völlig zw vernichten und einen treuen Untertanen" hcrauguzieheu. Ter Knabe soll dasKlügeln" lassen, wie bei jeder Gelegenheit betont wird; er soll nur die toten Bücher lesen, die ihm die Schulordnung in die Hand drückt, und die ledernen, öden Exercitien des Lehrers auswendig lernen. Taß man ruf diese Weise in der jungen Gesellschaft auf der Schulbank keine Begeisterung entflammen kann, ist selbstverständlich im übrigen ist es ja auch beabsichtigt. Die offiziellen Schulbücher sind in schauderhaftester Weise zusammengeschmicrt, die Geschichtsbücher enthalten nur das blödsinnigste albernste Geschwätz von aber- gläubischen und Wunderdingen, von wundertätigen Zaren und Fürsten   und ruhmvollen Armeen. Von dem Volke selbst, seinem Leben und Streben steht in ihnen so gut wie nichts. In diesen Büchern waren alle russischen Dichter und Denker nur fromme und treue Untertanen. Mau ist ja auch in Teutschland an eine tolle Klitterung im deutschen Schulgeschichtsunterricht gewöhnt, aber der- artigen Blödsinn, wie ihn die russischen Unterrichtsbücher enthalten und wie er in den Schulen gelehrt wird, würde hierzulande niemand glauben. Nur zu gut ist eS der russischen Regierung gelungen, das Volk in der Dummheit zu erhalten, sein geistiges Niveau unendlich niederzuhalten, ja hinabzudrücken. Selbst der Heidelberger   Pro- fessor Alfred Hettner  , der sich am sechsten internationalen Geologen» kcngreß zu Petersburg   im Herbst 1397 und der sich daran an- schließenden Bereifung des europäischen   Rußlands   beteiligte, die das Organisationskomitee des Kongressesmit freigebiger Unterstützung der russischen Regierung" veranstaltete, sagt in seinem kurz vor dem Beginne der Revolution abgeschlossenen und 190S erschienenen Buche Das europäische Rußland":Dem russischen Bauern geht jede Weltkenntnis und jede klare Auffassung des Zusammenhanges der Erscheinungen ab, er steht geistig noch gmiz im Mittelalter. Und bisher ist kaum eine Wandlung zum besseren zu bemerken. Die geringe Volksbildung wird gar nicht nur als ein Uebel anerkannt, sondern von der Regierung und einer großen einflußreichen Partei als ein Vorzug, als Schutz vor dem deutschen Sozialismus und Atheismus betrachtet; die aufopfernden, allerdings meist mit poli- tischem Radikalismus verquickten Bestrebungen derIntelligenz", Schulen zu errichten, sind von der Regierung und der Kirche gewalt- sam unterdrückt worden." Und niemand wird behaupten wollen, daß dieser Zeuge der russischen Verhältnisse oiese zu schwarz gemalt haben wird. An einer anderen Stelle sägt Hettner  , daß das Volk dem Zaren Macht über die Natur zutraue. Wenn auch die russische Revolution diesem Märchen von dem sich hinter die goldenen Gitter- stäbe seiner Schlotzkäfige verkriechenden Selbstherrscher einen argen Stoß versetzt hat, so ist doch schon die Tatsache, daß solch Aberglaube in Rußland   geherrscht hat und teilweise noch vorhanden ist. ein lebendiges Zeugnis für den traurigen, geistigen Tiefstand der russischen Bevölkerung, für den übrigens die sicher nicht nach der für die Regierung ungünstigen Seite übertriebenen und gefälschten Nach- weise der letzten russischen Volkszählung aus dem Jahre 1897 schlagende Belege liefern. Diese Unwissenheit wird in der Schule wirksam gefördert; die offiziellen Schulbücher enthalten die Tat- fachen und Vorgänge in derartiger Verklausulicrung, daß kein normaler Mensch sie im Gedächtnis denkend festhalten kann. Die Schüler müssen dieses tolle Zeug mit großer Mühe auswendig lernen, um es bei der ersten besten sich darbietenden Gelegenheit, d. h. sobald sie der Fesseln der Schule ledig werde», so schnell wie möglich zu vergessen. Es ist überhaupt sehr zu verwundern, daß die Kinder die ganze Schulzeit aushalten können; hauptsächlich ist es die Furcht der Kinder und ihr Ehrgeiz, dann aber auch die Lobgeschenke und anderes, die bewirken, daß sie an diesem für sie direkt ruinösen Schulbetrieb noch Anteil nehmen. Wirkliches Denken und Fühlen hat nur außer- halb der Schule eine Stätte. Dazu kommt noch das eigenartige Ordnungssystem", das den Knaben das Spionieren, Verraten, den Neid und nationalen Haß und Verhetzung systematisch einimpfen. In diesem unerträglich bitteren Milieu nehmen die meisten Externen" den Anfang. Trotz aller Strenge der Behörden bleiben manche Schüler unnachgiebig undsonderbar". Den Erziehungs- künsten der Lehrer setzen sie instinktiv einen naiven, hartnäckigen Widerstand entgegen und lassen sich selbst zu der unmoralischen Handlungsweise des Spionicrens und Bewachens der Mitschüler mißbrauchen. Sie arbeiten nur höchst widerwillig, sind beim Unter» richt unaufmerksam und unruhig, lernen ihr Pensum nicht und