Anterhaltungsvlatt des Horwärts Nr. 42. Donnerstag, den 1. März. 1906 (Nachdruck verboten.) Vie Eroberung von Jerusalem . Roman Von M y r i a m H a r r h. 31' Autorisierte Ucbersetzuna aus dem Französischen "on Alfred Leuker In wenigen Wochen Verlor Elias seine Illusionen und seine Begeisterung. Auch seinen Glauben Verlor er, und in seinem Herzen wurde es öde wie in einer leeren Gruft. Dieses biblische Land, aus dem sich doch eine Quelle milder und friedlicher Lehren ergossen hatte, erschien ihm jetzt wie ein Glutofen Voller Hah und Unduldsamkeit. Und diese Grabeskirche mit ihrem Labyrinth von Kapellen, Krypten. Klöstern schien ihm jetzt mehr ein Tempel der Zwietracht zu sein, wo im Schatten der Altäre die religiöse Anarchie ihr Garn und ihre hinterlistigen Kniffe wob. Ueberall betete man und überall stritt man sich. Mar sang nicht, um Gott zu preisen, sondern um die Stimme des benachbarten Kults zu überschreien und so zu verhindern, daß sie bis zum Himmel empordrang. Es gab dort Kyrie eleisons, schrill wie das Gebrüll aufständischer Horden, und Tedeums, schaurig wie Totengcläut. Oft mußten die am Eingange zum Heiligtums hockenden türkischen Soldaten, denen die Auf- rechterhaltung der Ordnung oblag, ihr Würfelspiel und ihre Kaffeetassen verlassen, um den Christen wieder den Respekt vor ihrer Kirche beizubringen. Elias, der vorher die Geistesleuchte nur von fern ge- sehen, irrte jetzt hier an ihrem Brennpunkte inmitten der Finsternisse der toten Buchstaben blind umher. Dort, wo er eine Kräftigung seines Glaubens erträumt hatte, fand er nur verschwommenen Aberglauben, der seine Sicherheit zerstörte. Nirgends achtete man die heiligen Ueberlieferungen, überall war Lug und Trug, und Käuflichkeit und Fälschungen machten sich breit von den Paradieskarten an, die den russi- schen Pilgern verabfolgt wurden, bis zu den in den Kloster - mauern eingemeißelten Inschriften. Eigensinnig schwiegen die Pergamente unter der Lupe, der Boden unter der Hacke des Gelehrten, und während die Hebräer und Römer mit dem gegenwärtigen Zustande ganz vertraut waren, legte nichts von der ersten christlichen Epoche Zeugnis ab, bestätigte kein sichtbares Anzeichen das Dasein des Herrn, der, ohne eine Spur zu hinterlassen, wie ein Phantom über diese Erde dahingeschritten zu sein schien. Verzagt wandte Elias Jamain sich von Golgatha ab, und seine Gedanken irrten nach der anderen Seite Jerusalems hinüber, wo sich ganz authentisch Trümmer des jüdi­schen Tempels bis jetzt erhalten hatten. Durch welch ein Wunder hielten diese Steine noch nach zwanzig Zerstörungen und zwanzig Jahrhunderten stand, und durch welch ein Wunder kam dieses in alle Weitenden zerstreute Volk in dem zweitausendjährigen Gewände hierher zurück, um in einer toten Sprache, aber mit einer stets wiedererstehenden Leiden- schaft und einer unerschütterlichen Ucberzeugnng an dieser verfallenen Mauer zu klagen? Aufs tiefste rührten ihn die Gemeinsamkeit und die Glut dieses verbissenen, fruchtlosen Schmerzes, und voller Bangen fragte er sich, worin wohl die Seelenstärke dieses unvergäng- lichen Israel , worin das Geheimnis seines seltsamen Schick- sals bestehen mochte? Er interessierte sich für die Geheim- lehre ihres Kults, für die Wissenschaft der Talmudisten, für die karaitischen Ueberlieferungen. Er ließ sich in die Zeremonien einführen, die ebenso wie zur Zeit der Hohen- Priester gehandhabt wurden und oft hörte er in der Dämme» rung der Synagogen die Fürsten der Schriftforschung die Mysterien der Kabbala deuten. Da er nicht mehr zu glauben wagte, befriedigte er wenigstens seinen Wissensdrang. Allmählich faßte er eine gewisse Zuneigung zum Ghetto, diesem so eigenartigen Viertel Jerusalems , das er nie durch- strich, ohne gleichzeitig an des Onkels Briefbeschwerer und seine erste Lektion im Hebräischen zu denken. Und so hielt er sich lange auf in jenen gewundenen, krummen Gäßchen, unter den düsteren Gewölben, wo die Frauen mit den Kopf- tüchern, die Männer im Kaftan, die siebenarmigen Leuchter und die Thora-Vorhänge ihm die alte Bibel seiner Mutter mit den ergreifenden und gleichzeitig grotesken Schnitten ins Gedächtnis zurückriefen. Und da sein Herz zartfühlend und vereinsamt war, packte ihn das Mitleid mit dem Elend und dem erbärmlichen Leben. das die meisten Juden führten. Arm, verachtet, verhöhnt und gezwungen, heute von den Türken die Erlaubnis zu er- kaufen, ihre Stirn gegen die Fliesen drücken zu dürfen, welche ihre Vorväter einst mit den Füßen abgewetzt hatten, lebten sie fast nur von Almosen, eingepfercht zwischen Schutthaufen. ohne Luft, ohne Licht, ohne Äasenfleck, ohne Wasser. Sich von ihrer Wissenschaft abwendend, wollte Elias wenigstens ihrem Elend näher treten und in ihm stieg der Traum auf, ihr Leben zu verbessern und zu erleichtern. Warum sollte man nicht an die gespickten Börsen ihrer Glaubensgenossen in Europa appellieren? Warum sollte dieses armselige Volk sich nicht über Judäas Felder und Gärten ausbreiten, um das Land zu ackern und zu bebauen, wie es einst seine Ahnen getan? Für die Kinder würde man Schulen erbauen, für die Kranken Hospize. Priester würden sie wieder haben und Synagogen, um ihre Feste zu feiern, und wenn sie weinen und klagen wollten, würden sie wieder nach Jerusalem emporsteigen. So sah Elias schon halb und halb für diese überall Ver- bannten ein Zeitalter der Ruhe und ein Eckchen Vaterland. und bei der Befriedigung über die Milderung ihres Elends vergaß er seine eigene Betrübnis und Vereinsamung. Er sprach von seinen Plänen mit den Juden; diese aber, die ihn so bereitwillig in ihre althergebrachten Sitten ein» geführt hatten, lehnten sich heftig auf gegen die Idee, auch nur ein Tüpfelchen derselben zu ändern. Plötzlich miß- trauisch geworden, schwiegen sie zu alt seinen Vorschlägen, und als er eines Tages besonders eindringlich sprach, antwortete ihm der alte Rabbi, dessen gerötete Augen unter seiner Pelz- kappe wild zu rollen anfingen:Wir sind nicht hergekommen, um zu leben, wir kommen hierher, um zu sterben." Von diesem Augenblick an sah der junge Gelehrte sich von Feindseligkeiten und Argwohn umgeben. Die Christen hielten ihn für einen neuen Sektierer, dessen Konkurrenz sie befürchteten, und die Juden sagten:Wer ist dieser Ein- dringling? Sicherlich ein falscher Prophet, der uns Zion ent- reißen will." Die Pforten der Synagogen schlössen sich vor ihm; die Kinder verhöhnten ihn von ferne, indem sie mit den Fingern Teufelshörner an die Stirn matten, und rückten bei seinem Näherkommen aus. Und blieb er zufällig an einem Brunnen sieben, so schrien die Weiber:Wchel Er vergiftet unsere Zisternen I" Wenn er am Freitag an der Klagemauer vorbeiging, so krallten sich alle krummen Finger in den schmierigen Kaftan- ärmeln, alle fettigen Stirnlöckchen zitterten vor Entrüstung und alle bläulichen Lippen stammelten Flüche und Ver- wünschnngen. 4. Als in einer Nacht die Wache ihre Runde durch das jüdische Viertel machte, sah sie beim Lichte ihrer Laternen einen jungen Europäer besinnungslos auf dem Boden liegen. Auf seiner Stirn hatte er eine blutende Wunde, die scheinbar von einem spitzen und von oben herabgelvorfenen Steine her- rührte. Wahrscheinlich war dieser durch eines jeuer schmutzigen Dachfenster, die im ganzen Ghetto auf die Straße herab- schielen, geschleudert worden. Doch fand man das Mord- instrument nicht mehr vor. Und da die türkischen Soldaten sich mit der Anschauung, Allah habe es so bestimmt, leicht be- ruhigteu, so transportierten sie den Verwundeten in das nächst- liegende Hospital, in das Diakonissenhaus. Als Elias Jamain nach langen Tagen der Bewußtlosig- keit wieder zu sich kam, befand er sich in einem kleinen, weiß- getünchten Kämmerchen init gedämpftem Licht, das es durch eine einzige Türe erhielt, die auf eine von Passionsblumen umrankte Veranda führte. Und in dieser Passionsblumen- laube sah er im Schatten der düsteren Umlaubung, aus der mystische Blumenkronen ihre perlmutterartig� glänzenden Sterne hervorstecktcn, ein junges zartes Mädchen in der blauen