Unterhaltungsblatt des UorwärtsNr. 110.Dienstag, den 12. Juni.1906(Nachdruck verboten.)ss, Einer Mutter Sohn.Roman von Clara Viebig.Der Knabe erwiderte den Blick des Mannes, gros; rmdstarr. Das junge Gesicht war so blaß, daß die dunklen Augennoch dunkler erschienen; abgrundschwarz.„Böse Augen," sagte sich Schlieben. Und von einemalten, längst vergessenen, aber trotz allem und allem imniernoch in der tiefsten Seele schlummernden, jetzt plötzlichlebendig gewordenen Argwohn jäh übermannt, faßte er denKnaben vorn bei der Brust und hielt ihn so mächtig, daß eskeinen Widerstand mehr gab.„Bengel! Bursche? Hast Du denn gar kein Herz? Sie,die Dir so viel Gutes getan hat. sie, sie wartet auf Dich—und Du, Du willst nicht?! Auf die Knie, sag' ich! Voran— bitte abL Sofort!" Und er faßte den keine RegungZeigenden nun im Genick anstatt bei der Brust, und stieß ihnvor sich her, die Treppe hinunter, hinein ins Zimmer, wo Kätesaß, versunken in ihren Kummer, die Augen rotgeweint.„Hier kommt einer, der abbitten will." sagte Schliebenund stieß ihr den Knaben vor die Füße.Wolfgang hatte schreien wollen i„nein, ich bitte nichtab, nun erst recht nicht!"— da tat sie ihm auf einmal so leid.Ach, die war ja ebenso unglücklich wie er— sie paßten nuneinmal nicht zueinander! Das war wie eine plötzliche Er-kenntnis, die seinen Blick vertiefte, sein Kindergesicht so ver-schärfte in allen Linien, daß es alt wurde über seine Jahre.Aufschluchzend stieß er heraus:„Verzeih!" Er hörteeS selber nicht, wie viel Qual in seinem Ton lag, er fühlteauch kaum, daß ihre Arme ihn emporzogen, daß er für Augen-blicke an ihrer Brust lag und sie ihm die Haare aus derglühenden Stirn strich. Er war wie halb bewußtlos; nureine große Leere fichlte er und eine unklare Trostlosigkeit.Wie im Traum hörte er den Vater sprechen:„So ist'srecht! So, nun geh und arbeite! Und bessere Dich!" Undder Mutter sanfte Stimme:„Ja, er wird schon!" Wie einNachtwandelnder ging er die Trevpe hinauf. Er sollte jetztarbeiten— wozu, warum?! Es war ja alles so gleichgültig.Gleichgültig war es, ob die hier ihn lobten oder tadelten—was ging ihn alles hier an?! Er mochte hier überhaupt nichtmehr sein, nicht länger mehr bleiben— nein, nein! Wie im?lbscheil schüttelte er sich,Lange stand er dann auf einem Fleck, ins Leere stierend.Und vor seinen starrenden Blicken erstand allmählich einegroße, eine lmermeßliche Weite— Kornfelder und Heide.rote blühende Heide, in der die Sonne versinkt, stille Wasser,an denen ein einsamer Vogel lockt und iiber all dem feierlich-schönes Glockengeläut. Da mußte er hin! Verlangend streckteer die Arme aus, seine verweinten Augen glänzten auf.Wenn sie ihn hier hielten, festhielten— nein, sie konntenihn nicht halten! Dahin mußte er!Wie gezogen näherte er sich dem Fenster. Tief war'sda hinunter, zu tief für einen Sprung, aber er würde dochhinabkommen. Ueber die Treppe ging er freilich nicht, dawürden sie ihn hören, aber so— ha, so!Sich auf das äußere Gesims des Fensters knieend, streckteer tastend die Füße nach der Wasserrinne aus, die, zur Seitedes Fensters, die ganze Wand des Hauses hinablief. Ha, erfühlte sie! Da rutschte er vom Sims herab, hing nur nochmit den Fingerspitzen daran, baumelte für ein paar Momentein freier Luft, hatte dann die Wasserrinne zwischen den Knieen,ließ die Finger vollends vom Sims, umklammerte das Blechrohr und fuhr daran hinab, rasch und lautlos.Scheu sah er sich um: es hatte ihn niemand gesehen!Niemand war auf der Straße, fern wanderten nur ein paarSpaziergänger, Geduckt schlich er unter den Parterrefensternher— nun war er im Garten hinter den Bosketts— nunüber den Zaun— seine Hose schlitzte, das machte nichts— nunsah er mit einem Gefühl wilden Triumphes nach dem Hausezurück. Er stand drüben auf dem öden Feld, das noch immerunbebaut lag; stand, gedeckt von einem wilden Hollunderbusch,dessen ersten Sprößling er vor Jahren, als Kind, hier eingesenkt hatte. Keine Empfindung deS Bedauerns regte sichin ihm. Flüchtig lme ein Wild, das Schüsse hört, jagte erdavon, dem deckenden Walde zu.Ev rannte und rannte, lief noch, als längst kein Laufenmehr not tat. Erst eine völlige Erschöpfung zwang ihn, inne-zuhalten. Er war immer quer durchgelaufen, ohne jeglichenWeg; nun wußte er nicht mehr, wo er war. So viel warsicher, er war schon weit fort; so weit war er ans seinen Räuber-zügen mit den Spielgefährten nicht gekommen, so tief in denWald hinein nicht, auch nie auf Spaziergängen so gänzlichins Pfadlose, ins ganz Einsame. Hier konnte er ruhig eineWeile rasten.Er warf sich auf den Boden, dessen Sand nur feinfädigesGras und in kleinen Senkungen einige Bestände von Adler-farrn wies. Um ihn reckten sich fülle Bäume wie schlankeSäulen, die den Himmel zu tragen schienen.Hier lag er eine Weile auf dem Rücken und ließ daSBlut ausrasen, das ihm wie toll durch die Adern schoß. Erglaubte daS unerklärlich heftige Pochen seines Herzens laut zuhören— o, wie unangenehm es ihm da in der Brust hämmerteund stach, so hatte er noch nie sein Herz gespürt! Freilich.so war er auch noch nie gelaufen, wenigstens seit der Krankheitnicht. Er mußte nach Luft ringen, er glaubte zu ersticken.Endlich konnte er wieder bequemer atmen; jetzt brauchte ernicht mehr die Nasenflügel zu blähen und mit offenem Mundezu schnappen. Jetzt genoß er ein Wohlbehagen, das allmählichüber ihn kam.Es war noch nicht dämnierig, als er wieder weiterging,aber doch schon begann der Spätnachmittag zu zeigen, daßes Oktober war. Der Sonnenschein, der durch die rotenKiefernäste fiel, hatte etnws unendlich MildverNärtes, einesüße Sanftheit, die auch den wilden Durchgänger sänftigte.Er ging in einem Traum— wohin? Das wußte er nicht,daran dachte er auch nicht, er ging eben, ging. Ging einerSehnsucht nach, die ihn unwiderstehlich zog, die wie eine ihrNest suchende Taube vor ihm herflatterte, girrte und lockte.Und die Taubenschwingen waren stärker denn Adlerfitüche.Wo die Sehnsucht flog, da waren keine Menschen. Dawar es so fnedlich-still. Nicht einmal der Fuß, der in MooZund kurzem Gras versank, machte ein Geräusch. DünnenKerzen gleich, die oben brannten, so standen die Kiefern insonnigen Abendgluten, Kein herbstliches Blatt, in dem einWind hätte rascheln können, lag am Boden; über die glattenNadeln und farblosen Zäpfchen, die von den Kronen herab-gesunken ivaren, strich die Luft hin ohne Laut.Daß es so schön hier war! Mit einem staunenden Ent-zücken sah Wolfgang sich um. So schön hatte es ihn früherdoch nie gedeucht! Freilich, da wo die Villen stehen und dieWege führen, da war's auch nicht so wie hier! Sein Blickglitt bald nach rechts, bald nach links, und mit Neugier vor-aus in den Dämmer des Waldes. Da. wo das letzte Sonnen-gold nicht wie rotes Blut an den rissigen Borken klebte, da,wo das Licht nicht mehr hin traf, war ein weiches, geheimnis-volles Dunkeln, in dem die moosigen Stämme mit ihremtiefen Grün trotzdem leuchteten. Und ein Duften war hier,so herb und frisch, daß die Brust wie befreit ausatmete. undeine neue Kraft durch die Glieder rann.Wolfgang begann jetzt, hier in der großen Ruhe dieAufregungen des Tages zu empfinden. Er faßte sich nachder heißen Stirn— ah, jetzt merkte er, daß er nicht einmaleine Mütze hatte! Aber was machte das? Er war frei, freilMit einem Jauchzen schoß er dahin, und dann erschrak er überdie eigene laute Stimme: st, still! Nur nicht wieder eingesperrtwerden, frei sein, frei!Nun fühlte er keine Sehnsucht mehr. Eine große Wonnedurchrann ihn, eine schrankenlose Seligkeit. Die Augenstrahlten ihm— er riß sie weit auf— er konnte gar nichtgenug die Welt bestaunen, als sähe er sie heut zum erstenmal.Er rannte gegen die himmeltragenden Stämme und umfingsie mit beiden Armen; er drückte sein Gesicht an die Rinde.War diese Rinde nicht weich, schmiegte sie sich nicht an seineglühende Wange wie eine schmeichelnde Hand?!Er warf sich aufs Moos und reckte sich lang und rekeltesich in höchstem Behagen und sprang dann wieder auf— es.