Nnterhaltungsblatt des HorivnrtsNr. 117.Donnerstag, den 21. Juni.1906(Nachdruck verboten.)351Einer Mutter Sokn.Roman von ClaraViebig.Kein Ruf, kein Fußtritt, kein Räderrollen, kein Singen,kein Lachen, nicht eininal ein Hundegekläff stieg auf aus derschlafenden Grunewaldkolonie. Nur wie ein leises Seufzenging's um die weiße Villa mit dem roten Dach und dengrünen Läden.Die Mutter, die auf ihren Sohn wartete, horchte auf:war da jemand?! Nein, es war das Nachtlüftchen, das dortdie Neste' der alten verknorrten Kiefer zu bewegen suchte.Käte Schlichen stand jetzt am Fenster— vorhin hatte siees ungeduldig ausgerissen— nun beugte sie sich hinaus. So-weit ihr Auge reichte, war niemand zu sehen— gar niemand.Er kam noch immer nicht.Zwei schlug die Uhr. Mit einem fast verzweifelten Blicksah sich die Frau nach dem Kamin um: o diese quälende, dieseunerträgliche Uhr! Es konnte nicht sein, sie mußte falschgehen, es konnte nicht sein, daß es schon so spät war!Käte hatte schon so manchen Abend aufgesessen und aufWolfgang gewartet, aber so lange wie heute war er nochnie ausgeblieben. Paul hatte nichts dagegen, wenn derJunge seine eigenen Wege ging.„Liebes Kind," hatte er jagesprochen,„das kannst Du nicht ändern. Lege Dich hin undschlafe, das ist viel vernünftiger. Der Junge hat denSchlüssel, er wird schon wohlbehalten ins Haus kommen.Einen jungen Menschen in seinem Alter kannst Du nicht mehrgängeln. Laß ihn— Du verleidest ihm ja sonst unser Haus— laß ihn doch ruhig gehen!"Was Paul sich dachte! Freilich, er hatte ganz recht,gängeln durfte sie ihn nicht mehr! Das konnte sie auch garnicht mehr— hatte sie nie gekonnt. Aber wie konnte siesich ruhig zu Bett legen?! Schlafen würde sie ja doch nicht.Wo blieb er?!—Käte war grau geworden. In drei Jahren, die der-strichen waren seit des Sohnes Einsegnung, hatte sie sichäußerlich sehr verändert. Während Wolfgang in die Höhewuchs, stark und sich breitete wie ein junger Baum, hatte ihreGestalt sich geneigt wie eine Blume, die regenbeschwert ist oderwelken will. Ihre feinen Züge waren dieselben geblieben,aber die Haut, die so lange eine fast mädchenhaft-zarte Glättebewahrt hatte, war schlaffer geworden: ihre Aug«�r sahen aus,als hätten sie viel geweint. Die Bekannten fanden FrauSchlichen recht gealtert.Wenn sich Käte jetzt in dem Spiegel sah, hatte sie nichtmehr das freudige Erröten über die eigene wohlkonservierteErscheinung: sie sah sich nicht gern inehr an. Es hatte ihrirgend etwas innerlich und äußerlich einen Ruck gegeben.Was das gewesen war, ahnte niemand. Schliebcn freilichwußte es, aber er sprach mit seiner Frau nicht darüber:warum sie von neuem aufregen, alte Wunden wieder auf-reißen?!Er hütete sich wohl, noch einmal wieder auf jenen Kon-firmationstag zurückkommen. Es war auch bequemer so.Den Jungen hatte er sich freilich damals noch ordentlich vor--genommen, ihm in strengen Worten sein undankbares Ver-halten klar gemacht und ein rücksichtsvolleres und besondersgegen die Mutter liebevolleres Benehmen von ihm verlangt.Und der junge Mensch, den sein Betragen wohl längst reuenmochte, hatte dagestanden, wie ein armer Sünder, nichts hatteer gesagt, den gesenkten Blick nicht gehoben. Und als derVater ihn zuletzt zur Mutter geführt hatte, hatte er sichführen lassen und sich von der Mutter, die ihn mit beidenArmen umschlang, umschlingen lassen. Sie hatte über ihm ge-weint und ihn dann geküßt.Und dann war nie, nie mehr darüber geredet worden.—Das weiße Haus mit seinem heiteren Grün und Rot,an dem und in dem immer wieder neue Verschönerungenund Verbesserungen vorgenommen wurden, fiel allen,, dievorübergingen, als besonders anheimelnd auf. Die Sonn-tagsausflügler blieben am schmiedeeisernen Gitter stehen undbewunderten die Blumenfülle: im Sommer die hängendenGeranien der Balkons und die Pracht der edlen Rosenstöcke,im Winter die Azaleen und Kamelien hinterm dicken Glasdes Wintergartens und die farbigen Primelreihen zwischenden Doppelfenstern und die frühen Hyazinthen und TulpemDie Dame in dem weichen Tuchkleid mit dem welligen grauenScheitel und dem sanften Gesicht, auf dem es wie ein leicht-wehmütiges Lächeln lag, paßte gut zu dem Haus und zu denBlumen, zu dem ganzen Frieden.„Entzückend", sagten dieLeute.__Wenn Wolfgang früher, als Junge, so etwas gehört hatte,hatte er den Bewunderern eine Fratze aeschnitten: was gingendie Haus und Garten an, da war doch nichts daran zu be-Wundern?! Nun schmeichelte es ihm, wenn sie stehen blieben,wenn sie's gar beneidenswert fanden. O ja, es war recht netthier! Er fühlte sich.Schlichen und Käte hatten nie einen besonderen Wertauf Geld gelegt, sie hatten ja immer genug gehabt, das guteAuskommen war ihnen einfach selbstverständlich: sie ahntenes gar nicht, daß der Sohn Wert auf den Reichtum legte.Wenn Wolfgang jetzt daran dachte, daß er einst in knaben-haftem Ungestüm das alles nicht geachtet hatte, fortgelaufenwar in die Irre, ohne Geld, ohne Brot, mußte er lächeln:wie kindisch! Und wenn er bedachte, daß er einmal, als erdoch schon älter geworden war und überlegen konnte, mitUngestüm etwas verlangt hatte, das gleichbedeutend gewesenwäre mit Aufgabe all dessen, was sein Leben so bequem ge-staltete, dann schüttelte er jetzt den Kopf: zu einfältig!Es gewährte ihm eine gewisse Genugtuung, sich mitanderen zu vergleichen. Kesselborn schwitzte noch in Prima— der sollte durchaus studieren, Theologie, womöglich wegenseines Adels Hofprediger werden— Lehmann mußte seinemVater bei der Spedition helfen, trotz des Einjährigen, mitdem er abgegangen war, Möbelwagen karren! Und Kullrich— ach, Kullrich erst, der hatte die Schwindsucht! Wie seineMutter. Trauriges Erbe das!Ein halb geringschätziges, halb mitleidiges Lächeln zogWolfgangs Mundwinkel herab, wenn er der Schulkameradengedachte. Hieß das leben?! Ah, und leben, leben war sowunderschön!Wolfgang hatte das Bewußtsein seiner Kraft: er konnteBäume entwurzeln, Mauern, die sich ihm entgegenstellten,umpusten, als seien es Kartenblätter.Es war nicht länger mehr mit ihm auf der Schule ge-gongen, seine Glieder und feine Neigungen hatten nicht mehrin die Schulbank hineingepaßt. Er bekam ja auch schon einenSchnurrbart! Wie ein schwarzer Schatten war der schon langeauf der Oberlippe zu ahnen gewesen: nun war er da, er warda! So ein fertiger Mensch konnte doch nicht mehr in Se-kunda sitzen? Wozu auch, er sollte ja auch kein Gelehrterwerden?.! Mit der Reife für Prima war Wolfgang ab-gegangen.Schliebcn hatte die Absicht, ihn gleich nach Absolvierungder Schule ins Ausland zu schicken, noch für ein Jahr auf-gegeben; erst wollte er ihn doch noch etwas unter Augenbehalten. Nicht, daß er ihn etwa so ängstlich wie Käte zuhüten bestrebt war, aber der alte Sanitätsrat, der gute Freund,auf den er so viel gab, hatte ihn in einer vertraulichenStunde, in der sie ganz allein, von niemandem gehört, beimGlase Wein saßen, geniahnt:„Hören Sic, Schlieben, nehmenSie den Jungen doch lieber in acht! Ich würde ihn noch nichtso weit weggeben— er ist so jung. Und er ist ein Unbandund— wissen Sie, bei dem, was er als Kind durchgemachthat— hm, man kann doch nicht sagen, ob das Herz so mitstandhält!"„Warum nicht?" hatte Schlieben da betroffen gefragt,„Sie halten ihn also für krank?!"„Nein, durchaus nicht!" Der Arzt war ordentlich ärger-lich geworden: gleich diese Uebertreibung!„Wer sagt dennwas von„krank"?! Aber drauf losgehen darf der Burschedoch nicht so. Na, und Jugend hat doch keine Tugend! DaSwissen wir doch auch noch von unserer Zeit her!"Und beide Männer hatten sich zugenickt, waren heitergeworden und hatten gelacht.Wolfgang bekam ein Reitpferd, ritt erst in der Bahnund dann täglich seine paar Stunden draußen. Der Vaterhielt darauf, daß er nicht zu viel im Kontor saß: was ihm