Wnterhaltmigsblatt des Vorivärts Nr. 113. Freitag, den 22 Juni 1906
(Nachdruck verboten.) 33] Giner JVIutter Sohn, Roman von ClaraViebig. Da schreckte sie eine Hand, die ihre Schulter berührte, auf. Blitzschnell wendete sie sich:„Bist Du endlich da?" „Ich bin's," sagte Schlieben. Er war aufgewacht, hatte sie nicht neben sich atmen hören und sich dann geärgert: wahr- haftig, da saß sie nun wieder unten und wartete auf den Jungen I Solch ein Unverstand! Und als er noch ein Weilchen gelegen und auf sie gewartet und sich geärgert hatte, warf er notdürftige Kleidung über, schlüpfte in die Morgen- schuhe und tappte durchs nächtliche Haus. Ihn fröstelte, und er war schlechter Laune. Nicht genug, daß er aus dem besten Schlaf gestört war und daß sie morgen Migräne haben würde, nein, noch schlimmer war, Wolfgang mußte es ja geradezu unleidlich finden, so beobachtet zu werden! Es war natürlich, daß er mit ihr schalt.„Was ist denn Schlimmes dabei, wenn er einmal ein bißchen länger aus- bleibt, ich bitte Dich, Käte! Das ist ja rein lächerlich von Dir! Ein bißchen bummeln, das Hab' ich auch als junger Mensch getan, und meine Mutter war, Gott sei's gedankt, verständig genug, sich nicht darum zu kümmern. Komm, Käte, komm jetzt zu Bett!" Sie wich zurück.„Ja— Du!" sagte sie langsam, und er wußte nicht, wie sie's meinte- Sie drehte ihm den Rücken zu und lehnte sich wieder zum Fenster hinaus. Er stand noch einige wenige Augenblicke und wartete, aber als sie nicht mitkam, sich nicht einmal umwandte nach ihm, schüttelte er den Kopf: man mußte sie lassen, sie wurde eben geradezu wunderlich! Schlaftrunken stieg er wieder allein die Treppe hinauf: er taumelte fast vor Müdigkeit, und die Glieder waren ihm schwer, und trotzdem war sein Denken klarer, unerbittlicher als am Tage, an dem so vieles rund umher ablenkt und zerstreut. Eine Sehnsucht stieg in dieser Stunde in ihm auf nach einer Frau, die seine alten Tage in sanftem Gleise ruhig und freundlich führen würde, deren Lächeln nicht nur Schein war wie das Lächeln auf Kätcs Gesicht. Eine Frau, die mit dem Herzen lächelt, ach, leider, so eine war seine Käte nicht! Mit einem Seufzen der Enttäuschung legte � Schlicken wieder nieder und zog frierend die Decke hoch hinauf. Aber es dauerte lange, bis er einschlafen konnte. Wenn der Junge doch nur endlich käme! Heute dauerte es wirklich etwas lange! Solche Bummelei ging denn doch zu weit! � Der Morgen graute, als eine Droschke langsam die Straße herunter zockelte. Vor der»veißen Villa hielt sie an, und zwei Herren halfen einem dritten heraus. Die beiden, die den dritten unter den Arm gefaßt hielten, lachten, und der Kutscher auf dem Bock, der interessiert herunterguckte, lachte auch verschmitzt:„Soll ick helfen, meine Herren? Na, jeht's?!" Sie lehnten ihn gegen das Gitter, das den Vorgarten verschloß, tippten auf die Klingel, sprangen dann eilig wieder in den Wagen und schlugen den Schlag zu:„Los, Kutscher, zurück!" Die Klingel hatte nur einen leisen vibrierenden Ton von sich gegeben— wie einen bangen Hauch— Käte hatte ihn gehört, obgleich sie im Sessel eingeschlafen war: nicht fest, es war mehr ein hindämmerndes Versinken gewesen. Nun sprang sie erschrocken auf, es gellte ihr in den Ohren. Rasch ans Fenster! Draußen am Gitter lehnte jemand. Wolfgang? Ja, ja, er war's! Aber warum schloß er denn nicht auf und kam herein? Was war ihm denn passiert? Es war ihr auf einmal, als müßte sie um Hülfe rufen: Friedrich! Paul! Paul! Nach den Mädchen klingeln. Es war ihm etwas geschehen, es mußte ihm etwas geschehen sein,— warum kam er denn nicht herein? Er lehnte da so schwer gegen das Gitter. Ganz seltsam! Der Kopf hing ihm auf die Brust, der Hut saß ihm im Nacken. War er krank?
Oder hatten ihn Strolche angefallen? Die abenteuer» lichsten Ideen schössen ihr plötzlich durch den Kopf. War er verletzt? Herrgott, was war ihm denn widerfahren? Befürchtungen, über die sie sonst gelächelt haben würde, kamen ihr jetzt zu dieser Stunde, in der es nicht Nacht mehr war, und doch auch noch nicht Tag. Ihre Füße waren kalt und steif, wie erfroren, kaum kam sie bis zur Haustür; den Schlüssel konnte sie erst nicht finden, und als ihre zitternden Hände ihn ins Schloß stießen, brachten sie ihn nicht herum. Sic war so ungeschickt in ihrer Hast, so sinnlos in ihrer Angst: etwas Furchtbares mußte geschehen sein! Ein Unglück! Sie fühlte das. Endlich, endlich! Der Schlüssel ließ sich endlich drehen. Und nun stürzte sie durch den Vorgarten ans Gittertürchen; eine eisige Morgenluft schlug ihr entgegen wie Winterhauch. Sie drückte das Gitter auf:„Wolfgang!" Er gab keine Antwort. Sein Gesicht konnte sie so nicht recht sehen: er stand unbeweglich. Sie faßte seine Hand:„Um Gottes willen, was ist Dir denn?" Er rührte sich nicht- „Wolfgang! Wolfgang!" Sie rüttelte ihn in höchster Angst: da fiel er so schwer gegen sie, daß er sie beinahe um- gestoßen hätte, und stammelte, lallte wie ein Blöder, dessen schwerer Zunge man etwas eingelernt hat:„Par— don!" Sie mußte ihn führen. Sein Atem, ganz voll Alkohol- dunst, wehte sie an. Ein ungeheurer Ekel, schrecklicher noch als die Angst vorher, packte sie. Das wär das Furchtbare, das sie erwartet hatte—, nein, das war noch furchtbarer, noch unerträglicher! Er war ja betrunken, betrunken! So mußte „betrunken" sein! In ihre Nähe war noch nie ein Betrunkener gekommen; nun hatte sie einen dicht bei sich. Ein Entsetzen schüttelte sie, daß ihr die Zähne aufeinander schlugen. O pfui, pfui, wie ekelhaft, wie gemein! Wie niedrig erschien er ihr, und sie selber wie mit erniedrigt. Das war ihr Wolfgang nicht mehr, ihr Kind, das sie an Sohnes Statt angenommen hatte! Dies hier war ein ganz gewöhnlicher, ein ganz gemeiner Mensch von der Straße, mit dem sie nichts, aber auch gar nichts mehr zu schaffen hatte! Hastig wollte sie ihn von sich schieben, ins Haus eilen, die Tür hinter sich schließen— mochte er sehen, was er machte! Aber er hielt sie fest. Seinen Arm hatte er schwer um ihren Nacken gelegt, er drückte sie fast nieder; so zwang er sie, ihn zu führen. Und widerwillig, mit innerem verzweifelten Aufbäumen und doch bezwungen, führte sie ihn. Sie konnte ihn doch nicht aufgeben, dem Gespött der Dienstboten preisgeben, dem Ge- lächter der Straße! Wenn ihn jemand so sähe?! Wie lange noch, und die ersten Menschen kamen vorüber, die Milchjungen, die Bäckermädchen, die Straßenarbeiter und die frühen Karlsbadtrinker. Um Gottes willen, wenn jemand eine Ahnung davon bekäme, wie tief gesunken er war! „Stütze Dich, stütze Dich fest," sagte sie mit zitternder Stimme.„Nimm Dich zusammen— so!" Sic brach fast unter ihm zusammen, aber sie erhielt ihn auf den Füßen. Er war so betrunken, er wußte nicht, was er tat, er wollte sich durchaus vor der Schwelle niederlegen, platt auf die Steinstufen. Aber sie riß ihn auf- „Du mußt— Du mußt!" sagte sie, und er folgte ihr wie ein Kind.„Wie ein Hund," dachte sie. Nun hatte sie ihn in der Vorhalle — die Haustür war wieder verschlossen— aber nun kam die Angst vor der Diener- schaft. Noch war diese nicht auf, aber nicht lange mehr, und Friedrich tappte auf Lederpantoffeln von der Gärtnerwoh- nung herüber, und die Mädchen kamen aus ihren Mansarden herunter, das Fegen und Aufräumen fing an, das OeffneN der Fenster, das Hochziehen der Jalousien, daß Helle— grausame Helle— in jeden Winkel drang. Sie mußte ihn die Treppe herauf bekommen, in sein Zimmer, ohne daß jemand etwas ahnte, ohne daß sie einen Menschen zu Hülfe rief! Einen Augenblick hatte sie an ihren Mann gedacht—, aber nein, auch den nicht, kein Mensch durfte ihn so sehen! Mit einer Kraft, pie sie sich selber nie zugetraut hätte, half sie ihm hinauf: sie lud ihn sich förmlich auf. Und sie flehte