„Ich weiß nicht, Herr Stationsborsteher! Vor Gott und denhier im Coups anwesenden Reisenden schwöre ich, ich weiß nicht!Aber um uns beide, Sie und mich, aus dieser grausamen, quälendenUngewißheit zu befreien, suche ich, Herr Stationsvorsteher— Bitte,überzeugen Sie sich selbst, ich suche— langsam, aber systematisch—"Bei diesen Worten entledigte Dumoissel sich seiner Stiefel, kehrtedas Futter seines Hutes um, öffnete den Deckel seiner Taschenuhrund jammerte:„Ich werde wohl wieder zahlen müssen!"Schon schickte der Herr Stationsvorsteher sich an, eine Quittungüber den zu erlegenden Betrag auszustellen, als Dumoissel einenFreudenschrei ausstieß:„Hurra I Da ist es! Da ist es, das kost-bare Kärtchen, der Gegenstand meiner Sorge!— Sehen Sie nur,Herr Stationsvorsteher, wie zerstreut ich bin! Die Karte war da,wo sie immer ist, in der äußeren Tasche meines Jacketts, und ichwollte sie partout im Futter meines Hutes entdecken!— Ja, ja,wie sagt doch der Dichter:Warum in die Ferne schweifen?Sieh'! das Gute liegt so nah'!"Aber Lepreux hörte nichts mehr. Wütend hatte er Kehrt ge-macht und war davongestürmt, während die Mitreisenden sich vorLachen wälzten.Doch Dumoissel begnügte sich nicht mit dieser Rache. Monate-lang zermarterte er sich den Kopf nach einem genialen Streich, dener dem Stationsvorsteher von Papotteville spielen könnte.Eines Nachmittags im Ministeriuni, als er über einemlängeren Finanzexposv schwitzte, stieß er plötzlich einen Freudenschreiaus:„Heureka I"„Bist Du krank?" fragten seine Kollegen teilnahmsvoll.„Nein, aber ich Hab's!"-„Was hast Du?"„Meine Rache an dem Stationsvorsteher von Papotteville." Under setzte seinen Plan auseinander.„Das wirst Du nicht tun I"„Das werde ich nicht tun? Noch heute abend, jawohl, nochheute abend tu' ichs I"Als es von der Kirche von Papotteville Mitternacht schlug, be-trat Dumoissel den Bahnhof.„Wo ist der Stationsvorsteher?" fragte er einen Beamten.„Er schläft. Er hat sich heute früher zu Bett gelegt, da er nichtganz wohl ist."„Schnell! Rufen Sie ihn! Soeben ist ein Unglück—"Ein Unglück! Der Beamte hörte nichts weiter. Hals über Kopfstürzte er zu Lepreux. Fünf Minuten später erschien dieser, dieUniform noch nicht ganz geschlossen, das Gesicht vom Schlaf gerötet.Beim Anblick Duinoissels stutzte er.„Sie sinds? Was ist denn das für ein Unglück?"„Das sollen Sie gleich hören, Herr Stationsvorsteher. Ichwollte gern eine Tafel Schokolade aus dem Bahnhofsautomatenhaben und steckte ein funkelnagelneues Zehnceittimesstiick in denSpalt des Apparats. Aber vergebens zog und riß ich am Holzgriff,nicht das kleinste Täfelchen Schokolade kam zum Vorschein I"Lepreux' Augen wurden größer und größer.Mit unerschütterlicher Ruhe fuhr Dumoissel fort:„Schon wollteich mich der tiefsten Verzweiflung überlassen, als ich die Aufschriftlas:„Sollte der Apparat nicht funktionieren, so benachrichtige mauden Stationsvorsteher!"— So komme ich denn jetzt zu Ihnen, HerrStationsvorsteher, um Sie zu benachrichtigen, daß dem Automatenein Unglück zugestoßen ist."—Kleines Feuilleton.fi. Kuba und die Kubaner. Der Aufstand in Kuba lenkt wiederunsere Aufmerksamkeit aus diese liebliche Insel, die von der Natur'mit den reichsten Gaben verschwenderisch ausgestattet wurde und derSchauplatz so vieler blutiger Ereignisse gewesen ist. Die LageKubas, die seltsame Schönheit seiner Landschaft macht es wirklichzu einem irdischen Paradiese. Wandert man z. B. durch dasDumurri-Tal bei Matanzas, so glaubt man sich in eine phantastischeTraumidylle versetzt. Eine berauschende Fülle tropischen Glanzes,sonniger Helligkeit und lieblicher Anmut nimmt Auge und Sinngefangen. Von der Santiago-Bay versichern 5tenner aller Wunder,die die weite Erde bietet, daß sie die malerischste Bucht sei, die esüberhaupt gäbe. Die Natur scheint hier all ihre Künste aufgebotenzu haben, um eine Szenerie von so hinreißendem Eindruck zuschassen, daß gegen ihn die Schönheit selbst von Neapel verblassenmuß. Das Klima Kubas ist für eine tropische Gegend sehr gemäßigtund durchaus erträglich. Quellen reinsten Wassers und prächtigeFlüsse strömen überall durch das Land und spenden Kühlung undFrische. Dabei ist freilich das Land durchaus nicht gesund. Aberdafür ist nicht die Natur, sondern der Mensch verantwortlich zumachen, der in Kuba sich die Segnungen des Landes noch nichtzunutze gemacht bat. e Allgemein wird über die außerordentlicheUnsauberkcit der Bewohner, über ihre Scheu vor kaltem Wasser unddie Vernachlässigung aller hygienischen Maßnahmen geklagt. Kubakönnte ein äußerst gesundes Land sein, wenn eine zweckmäßige Ab-leitung des Wassers und eine entsprechend durchgeführte Berieselungangelegt wäre. Bis jetzt aber sind dazu nur geringe Anstaltengetroffen.— Versenkt man sich in die Geschichte Kubas seit seinerEntdeckung durch Kolumbus, so ziehen in dem herrlichen Rahmendieser lachenden gesegneten Landschaft düstere und wilde Bilder andem geistigen Auge vorüber. Da ist auch nicht ein Blatt, das nichtmit Blut geschrieben wäre. Mit Grausamkeit und Blutdurst habendie Spanier in dem vorher von aller Kultur unberührten, denÄindertraum der Menschheit träumenden Eiland gewütet. 40 000Eingeborene wurden aus ihren Hütten vertrieben und erbarmungS-los niedergemetzelt. 44 Jahre nach der Entdeckung gab es nur nochetwa 500 Eingeborene auf der Insel. Durch die Jahrhunderte hinhat die schwere Hand der spanischen Regierung, die Grausanikcitder Inquisition und der starre Geist schwerer Bedrückung auf demLande gelastet. Mit hartnäckiger Beharrlichkeit herrschten gemein-sam die beiden Symbole spanischer Politik, das Schwert und dasKreuz. Und diese Verbindung militärischer und kirchlicher Ge-walten, die in den Zeiten der Gegenreformation den ungeheuerenEinfluß Spaniens ausgemacht hatten, erwies sich in späteren, undvor allem in unseren Zeiten verhängnisvoll und unheilbringend.Unter der Diktatur des General Wepler, den man einen„CesareBorgia in moderner spanischer Uniform" genannt hat, kamen dannalle die Aufstände, die bereits durch ein halbes Jahrhundert gegärthatten, zu einem gewaltigen Ausbruch und auch heute noch, nachdemdie Vereinigten Staaten das Protektorat über die Republik Kubaübernommen haben, regt sich der unruhige und wilde Geist dieseslange unterdrückten, aus mannigfachen Raffen gemischten Volkes.— Die Bevölkerung von Kuba setzt sich aus verschiedenen Bestand-teilen zusammen. Die spanischen Kubaner, die sich als Nachkommender alten spanischen Eroberer streng von den Nachkömmlingen vonLeuten anderer Nationen unterscheiden, haben noch viel von derstolzen, hidalgohaftcn Grandezza der alten Spanier, aber sie zeigenzugleich alle Merkmale der Dekadenz(Verfall); ihre Unbildung,ihre Energielosigkeit und Vcrderbtheit konstatieren alle Kenner desLandes. Die jungen Leute kommen gewöhnlich in ein Jesuiten-gymnasium, aber sie lernen nicht viel und fallen bald der Verführung.oder einer erschlaffenden Lethargie anhcim. Die Damen lesen nurdie schlechtesten französischen Romane. Die alte Blutgier undGrausamkeit, von den Vorfahren ererbt, schlägt noch manchmalfurchtbar empor; so berichtet z. B. N. Davey in seinem Werk überKuba von furchtbaren Mißhandlungen, die Neger von Kubanern zuerdulden hatten. Ein junger Mulatte Pedro wurde wegen einergeringfügigen Uebcltat an einen Baum gebunden und langsani zuTode gequält, mit Zangen gezwickt, mit Fcucrbränden langsam!geröstet, die Wunden wurden mit Salpeter eingerieben. So erlitter unter dem Gelächter der Umstehenden einen langsamen qual-vollen Tod.— Die anderen Bewohner Kubas sind ein viel Harm-loseres und glücklicheres Völkchen als diese Nachkommen der altenBedrücker. In ihnen lebt noch etwas von der einfach-natürlichenGlückseligkeit, die einst auf diesem schönen Fleck Erde geblüht, bevorEuropas Zivilisation darüber hinbrauste. Sie sind bei ihrer großenArmut schon zufrieden, wenn sie sich eine Haarnadel oder ein halbesEi kaufen können. Die Mädchen heiraten zwischen zwölf undachtzehn Jahren, und wenn sie älter als achtzehn sind, ohne geheiratetzu haben, dann gelten sie als alte Jungfern. Zehn und zwölfKinder in einer Familie sind nichts Seltenes. Die Kleinen krabbelnnackt auf den Straßen herum und wachsen in Schmutz und Sonneaus. Großes Vergnügen haben die Eingeborenen an— Begräbnissen. Das sind nämlich Schaustellungen, bei denen die größtePracht an den Tag gelegt ivird, und die Sorge eines jeden Kubanersist es, einst„eine schöne Leiche" zu sein. Für arme Leute, die keinenSarg bezahlen können, wird einer gemietet; ebenso mietet manBegräbnisstätten auf eine Reihe von Jahren. Sehr verbreitet sindunter dem Volke noch die grausamen Hahnenkämpfe, an denen siein höchster Erregung mit rollenden Augen, leichenblaß oder zitterndvor Spannung, mit Brüllen und Jauchzen teilnehmen, dann diesogenannten„Entenjagden", die ebenfalls auf eine außerordentlicheTierquälerei hinauslaufen. Sein Leben läßt der Kubaner fürMusik; es wird unaufhörlich gesungen, und überall in den schattigenTälern klingen heiße leidenschaftliche Melodien, in denen sich dasunruhige Temperament dieses Volkes entlädt.—e. k. Das„Dricseln". Unter den mannigfachen Spielereien,mit denen nichtstuerische Gesellschaftskreise zu allen Zeiten ihreLangeweile zu töten versuchen, wird es kaum jemals etwas Geist-loseres gegeben haben als das„Dricseln"— eine Narretei, diewie so manche andere aus Paris kam. Richtiger wohl: aus denTuilcrien oder vom Königsschloß. Wann es zuerst aufgekommenist, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber es war schon laugevor Ausbruch der Revolution Mode. Die vornehmsten Damen vomHofe Ludwigs XVI. und seiner leichtlebigen Frau Marie Antoniettescheuten sich nicht, die ihnen bekannten Kavaliere um ausrangiertegoldene und silberne Epaulettcs, Degenschleifen, Tressen undTroddeln, mit denen nach damaliger Mode alle Kleider überladenwaren, zu bitten: um in Gesellschaften die kostbaren Fäden aus-zuzupfc» und diese dann zu— verkaufen. Hinter diesem harmloserscheinenden Spiel verbargen sich also, wie man sieht, lukrativeInteressen. Nun konnte ein verliebter Narr, wollte er sich die be-sondere Gewogenheit seiner Angebeteten erwerben, nichts besserestun, als ihr je nach deren Wertschätzung und nach der Größe seinerBörse einige Dutzend goldene Troddeln oder allerlei mit Gold-fäden übersponncnen Schnickschnack zu schenken. Tie Dame seinesHerzens wieder beeilte sich, diese Geschenke in die nächste Gesellschaftmitzunehmen und sie dort in Fäden aufzulösen. Nach dem Wort„partiler"(zupfen) nannte mau diese goldlüsternen Zupferinncn„parfilerises" und das ganze Treiben„parülage". Diese Parfilcuses