Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 172.

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Donnerstag. den 6. September.

( Nachdruck verboten.)

Die Sandinger Gemeinde.

1906

seinerzeit die Sache mit dem lieben Gott abgemacht, indem er ihn um Verzeihung für seinen Sündenfall gebeten und an sich selbst gefühlt hatte, daß sie ihm gewährt war. Aber bei einer Gelegenheit wie diese regten sich dennoch reuige Ge­fühle in ihm, und dergleichen fiel ihm immer gleich auf die Verdauung, die überhaupt bei ihm die Dienste eines Gewissens verrichtete. Sobald es in seinem Magen zu rummeln begann, ward er in sich gekehrt und suchte das geheime Stämmerlein auf, das allemal in seinem Bett unter dem dicken Federkissen Sülfe von Kamillentee und Hafersuppe aus, bis er mit der eingerichtet wurde. Hier schwißte er seine Anfechtungen mit Biederauferstehung des Avvetits fühlte, daß die himmlische Gnade wieder über ihm und seinem kleinen Heim leuchtete.

Novelle von Henrik Pontoppidan . Autorisierte Uebersetzung aus dem Dänischen von Mathilde Mann . Nach der Morgenandacht teilte der Pastor das Ereignis Frau Gylling mit, die im Pfarrhofe übernachtet hatte, aber jezt im Laufe des Tages wieder abreisen wollte. Er er zählte ihr von dem armen Kinde, das von ihrer leiblichen Mutter, dieser schändlichen Person, in geistiger Finsternis erhalten würde, weil sie lieber mit ihren Kindern zugrunde gehen, als die Wohltaten der Gemeinde annehmen wollte. Die menschenfreundliche Frau war tief erschüttert durchgefundenen das, was er erzählte, und als er geendet hatte, sagte sie mit das, was er erzählte, und als er geendet hatte, jagte sie mit einem jener schneidigen Orakelworte, die sie so gut anzuwen den verstand, und die ihren Ruf salomonischer Weisheit be­gründet hatten:

Auch im Pfarrhof erregte die Nachricht von der wieder­gefundenen Boel große Freude. Frau Gylling erklärte so­fort, daß sie sich des armen Kindes annehmen wolle. Falls eine Möglichkeit vorhanden sei, die Einwilligung der Eltern zu erlangen, wolle sie Boel unter denselben Verhältnissen in mädchen vom Lande in ihrem Hause gehabt hatte, die ihr ihrem Heim aufnehmen, unter denen sie schon häufig junge

Je stärker die Sonne scheint, um so dunkler erscheint der Schatten, lieber Bastor Momme!" Indessen war die Nachricht von Boels Verschwinden von Hochschulfreunden empfohlen waren, oder an denen sie durch das Dorf geeilt und hatte überall die größeste Be- felber Gefallen gefunden hatte. Pastor Momme versprach, stürzung und bittere Empörung wachgerufen. Die Leute eine dahinzielende Verhandlung mit der Mutter des Kindes ſtanden in Gruppen vor den Häusern und erzählten und einzuleiten, und da diese noch nichts über dessen Schicksal er­fabrizierten Gerüchte. Man hielt es schon für eine ausgefahren hatte, beschloß er, sogleich zu ihr hinauszugehen und machte Tatsache, daß Boel sich ertränkt habe. Es gab sogar der Hoffnung, bei dieser Gelegenheit einen günstigen Augen­ihr die eingetroffene Freudenbotschaft zu überbringen, in Leute, die nicht abgeneigt waren, zu glauben, daß die schwarze blick zu finden, in dem er auf ihr Gemüt einwirken konnte. Lone selber eine Hand mit im Spiel gehabt habe. So einem Weibe, das weder an Gott noch an den Teufel glauben wolle, Die fleinen Kinder lagen wie gewöhnlich draußen und wühl­Wenige Minuten später befand er sich oben am Hause. sei ja das ergste zuzutrauen.

Während all dessen trabte Ravs wie eine stumpfsinnige ten im Schmutz. Sie waren heute weder gewaschen noch ge­Maschine auf seiner Schiebeplanke hin und her, da draußen tämmt, und zu essen hatten sie auch noch nichts bekommen. zwischen den anderen Eisenbahnarbeitern, und ahnte nichts. Stumm, mit großen, vor Hunger glänzenden Augen sahen An ihn dachte niemand. Er war ja nur ein blödes Arbeits- sie zu dem Pfarrer auf. tier" und in den Augen der Leute überhaupt nie etwas an Die Tür zu der Stube stand offen. Auch dadrinnen sah deres gewesen als ein Anhängsel von Lone. Viele in Dorf es schlimm aus. Die Betten waren nicht gemacht, an der fannten ihn überhaupt gar nicht einmal. Weil seine Frau Erde lagen abgelegte Lumpen, die zur Bekleidung gedient so übel beleumdet war, hatte er sich immer gezwungen gesehen, hatten, und Lone ließ sich nicht blicken. Nur die alte Groß­außerhalb des Kirchspiels Arbeit zu suchen; und daher mußte mutter war dadrinnen. Sie sak halb angezogen am Fenster er des Morgens von Hause gehen, ehe noch jemand im Dorf und bewegte blödsinnig den großen, triefenden, von langen aufgestanden war; und wenn er am Abend nach Hause fam, Barthaaren umgebenen Mund, während sie mit großem Eifer war es schon halbwegs dunkel. Jagd auf allerlei Tierchen unter ihrer wollenen Jacke machte und sich durch das Eintreten des Pfarrers in diesem Sport nicht stören ließ. Zu allem, was er fragte, murmelte sie nur: " Ich bin siebenundsiebzig, Gott helf mir,- fieben­undfiebzig."

Gegen Mittag kam ein reitender Bote aus einem der be­nachbarten Dörfer nach Sandinge und brachte die Nachricht, daß Boel gefunden und am Leben sei. Ein Bauer hatte sie auf der Landstraße, wo sie ganz erschöpft von Hunger und Er­mattung an einem Graben gesessen hatte, auf seinen Wagen Aber jetzt wurden draußen auf der Diele Holzschuh­genommen. Sie hatte anfänglich nichts sagen wollen, aber schritte hörbar, und als er sich umwandte, stand Lone in der endlich hatte sie dann erklärt, woher sie sei, und daß sie in die Tür. Sie war wieder ausgewesen, um nach ihrem Kinde zu Stadt gewollt habe, um einen Dienst zu suchen. Sie war suchen. Ihr geflickter Kleiderrock war ganz durchnäßt von jedoch nicht zu bewegen gewesen, wieder nach Sandinge zurück. den Zeichen und Moorlöchern, die sie durchsucht hatte. Und zukehren. Aus Angst vor der Mutter schrie sie auf, sobald nur von ihrer Verzweiflung redeten das bleiche, verzerrte Gesicht die Möglichkeit erwähnt wurde; deshalb hatte der Bauer fie und die Augen, die vom Weinen rot und angeschwollen waren. vorläufig bei sich aufgenommen. " Ich komme mit einer guten Nachricht zu Dir, Lone. Deine Tochter lebt!"

Ein befreiendes Gott sei Dank entstieg bei dieser Nach. richt der beklommenen kleinen Gemeinde, wo außer dem Und der Pfarrer erzählte ihr, was er von Boels Flucht Pfarrer noch so viele andere waren, die Boel ins Herz ge- und ihrem jezigen Aufenthaltsort wußte. schlossen hatten und sie bedauerten. Frauen und Mädchen Lone strich sich mit dem Rücken ihrer groben Faust über bersammelten sich wieder in Haufen vor den Haustüren und die Stirn, als schwindele es ihr einen Augenblick. Dann fah die Mundwerke gingen, so daß man es über die ganze Straße fie auf und wieder nieder, sagte aber nichts. hören konnte.

Auf niemand aber wirkte die Nachricht erlösender als auf den Freischullehrer Povelsen. Er hatte seine Angst aller­dings sehr schweigjam getragen. Nicht einmal seiner Frau gegenüber hatte er sie verraten, aber sie hatte ihn derartig an­gegriffen, daß er schließlich das Bett hatte aufsuchen und- wie das überhaupt recht häufig geschah- der Frau überlassen müssen, sich der Schule anzunehmen.

Dieser Mann, dessen Leben jekt so evangelisch rein und tadellos war, konnte vor sich selber ja nicht verbergen, was er mit so großem Erfolg und dank Lones stolzem Schweigen vor allen anderen, ja jogar vor seiner Frau verborgen hatte, daß nämlich Boel sein Kind war, sein sündiges Fleisch und Blut, die Frucht seiner jugendlichen Verirrungen. Für gewöhnlich bedrückte ihn dieser Gedanke jedoch nicht so sehr. Er hatte

"

Deine Tochter lebt!" wiederholte Pastor Momme feier­lich und beobachtete sie über die Brille hinweg. Der liebe Gott hat sie von dem Wege der Verirrung zurückgehalten und sie bei guten Menschen in Obhut gegeben."

Lone räumte einen Stuhl am Tisch ab und bot dem Pfarrer schweigend Platz an.

Pastor Momme setzte sich. Er sah aus wie ein Mann, der einen Beschluß gefaßt hat und sich tlar ist über den Weg, den er einschlagen will. Ruhig saß er da, beide Hände auf die Krücke feines Stockes gestützt, und sah seiner Gewohnheit gemäß mit dem ganzen Geficht zu ihr auf.

Und er fragte sie, ob Gott doch diesmal nicht zu ihrem Herzen gesprochen habe, daß sie Boel jezt erlauben würde, das Licht und das Leben zu suchen, nach dem ihre junge Kinderseele so sehnlichst verlangte, und er teilte ihr das An