Unterhaltungsblatt des Vorwärts
Nr. 173.
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Freitag, den 7. September.
( Nachdruck verboten.)
Die Sandinger Gemeinde.
Novelle von Henrit Pontoppidan. Autorisierte Uebersetzung aus dem Dänischen von Mathilde Mann .
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Wenn Frau Gylling in ihrem Lehnstuhl unter der Uhr im Wohnzimmer saß und Besuch empfing, hatte sie die Angewohnheit, sich zurückzulehnen, die Hände und ihre kleine Handarbeit im Schoße, und in dieser Stellung ihre noch immer schönen blauen Augen auf eine bestimmte Person im Zimmer zu richten mit ihren Gedanken so weit weg, daß es ihr oft schwierig erschien, sie wieder heimzurufen, wenn sich jemand mit einer Frage an sie wendete.
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Eigentlich saß sie immer so, und in Wirklichkeit nahm fie aus Slugheit niemals teil an einer Unterhaltung, aber fie hatte eine eigene orakelhafte Art und Weise zu lächeln, wenn man sie fragtè; sie fonnte so tiefsinnig die Achseln zuden und einen so vergeistigten Blick zu der Decke emporfenden, daß sie in dem Rufe stand, die geistreichste Frau des Landes zu sein.
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entferntesten von der Eingangstür gelegen war, und sie hatte als Hintergrund eine Pflanzengruppe mit vielen hellroten Rosen, die ihre füdländische Erscheinung vorzüglich kleideten. Auch sie selber war ziemlich aufgeputzt. Sie hatte zwei neue Kleider bekommen, und auf Frau Gyllings Anordnung war ihr blauschwarzes Haar auf eine malerische Weise mit weißen feidenen Bändern aufgesteckt. Im übrigen fühlte sie sich noch ziemlich unfrei in ihrem Staat. Die Lederschuhe klemmten ihren Fuß ein, und der steife Strich am Halsausschnitt kratzte, sobald sie nur den Kopf drehte. Auch über ihre Stellung im Hause war sie sich noch nicht klar. Ein eigentliches Dienstmädchen war sie nicht, nur am Vormittage mußte sie Haus mädchendienste verrichten und die Tür öffnen. Am Nach mittag und am Abend dahingegen mußte sie angekleidet im 3immer sitzen, um wie Frau Gylling gefagt hatte- aufmerksam dem zu lauschen, was geredet wurde, und Nugen daraus zu ziehen.
Aber trotz all ihrer Unsicherheit war sie unbeschreiblich glücklich. Wenn sie da hinten in ihrem Rosenversted saß, verschlang sie mit erstaunten Augen und Ohren, was um sie her vorging, und das Leben erschien ihr so schön, und alle Menschen waren so wunderbar gut, daß ihr die Tränen in die Augen traten, wenn sie nur daran dachte.
Plöglich ertönten muntere Stimmen draußen auf dem Vorplay, und zwei elegante Damen wurden von der Haushälterin hereingelassen.
Die eine war eine spite junge Frau, die hastig, mit einem überlegenen Gruß, an der kleinen Dame am Fenster vorüberstrich, Frau Gylling aber, die sich halb erhoben hatte, herzlich begrüßte. Die andere hatte ihre Schleppe in der Tür festgeklemmt, fam aber gleich hinterdrein. Liebe Frau Gylling, wir famen gerade vorüber, und
" Fräulein Drehling
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Frau Holm und Frau Krarup,"
So faß sie jetzt in einer späten Nachmittagsstunde in September da und betrachtete mütterlich nachfichtig einen großen, dunklen Sommerhut( eine förmliche Kalejche), innerhalb dessen sich ein längliches, wachsbleiches Gesicht mit zwei dunklen Augen und zwei sehr roten Lippen befand. Zu dieser selben Person gehörte eine große, schlanke Gestalt in einem strammgeschnürten. Kleid aus graupunktierter Seide, sowie ein Spizensonnenschirm, der während der Unterhaltung nervös auf der Spige einer ladierten Zehenspitze hin und da meinten wir her gewiegt wurde. Das alles miteinander bildete eine junge Dame, ein Fräulein Drehling, Tochter des Geheimen États- stellte Frau Gylling vor. rats Drehling, eines Jugendbekannten von Frau Gylling. ,, Ach! Welch ein Vergnügen! Es war die Zeit des Tages, zu der diejenigen von Frau wir müßten-" Gyllings Bekannten, die nicht zu ihren Gesinnungsgenossen doch einmal herauffommen und Sie begrüßen," vollgehörten, sie zu besuchen pflegten. Am Vormittag oder zu endete die andere, die ein wenig fetter war. der gewöhnlichen Visitenzeit fonnte die Stube geradezu verpestet sein wie es hieß von Reichstagsbauern und Dorfpredigern und Hochschullehrern, die nach Bärten und Eigenlob und altem Tabak rochen, und deren zudringlicher Familiarität man sich schlecht erwehren konnte.
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Gerade aus diesem Grunde hatte die junge Dame dieje Tageszeit für ihre Visite gewählt. Sie fonnte nie die Tortur bergessen, die sie ausgestanden hatte, als sie bei einem früheren Bejuch einem Seminaristen die Hand hatte geben und eine ausgereckte halbe Stunde die tiefsinnigen Betrachtungen eines braven Pastors über den schwachen Magen seiner Frau hatte mit anhören müssen.
Aber diese Stube barg für sie noch andere Erinnerungen. Trotz ihres Abscheus vor dem Leben, das sich für gewöhnlich hier abspielte, fühlte sie sich beständig hierhergezogen, wie die Motte nach dem Licht. Die Hoffnung, eine gewisse Person zu treffen, die hier beheimatet war, überwand ihren Seminaristenschrecken. Und wie sie so da saß und ihren Sonnen schirm auf dem Fuße wiegte und vor lauter Nervosität den Mund laufen ließ, hatte sie im Augenblick für nichts anderes Gedanken, als zu lauschen, ob nicht aus den anderen Stuben bekannte Männerschritte ertönten.
An dem einen der drei Fenster des Zimmers saß eine Kleine ältliche Dame und stricte mit ein paar hölzernen Stridiadeln. Sie hatte ein einfaches schwarzes Kleid an, aus dem ein langer, runzeliger, eingefunkener als mit einem tleinen Affenkopf hervorragte, der unbeweglich über das Stridzeug gebeugt war. Sie nahm nicht teil an der Unterhaltung, und es lag überhaupt etwas Unbeteiligtes in der Art und Weise, wie sie schweigend dajaß und mit ihren geschäftigen Stricknadeln flapperte.
Und doch war die kleine Dame die Schwester der Frau des Hauses. Sie hieß Fräulein Rosalie und war ebenso unbeliebt wie Frau Gylling bewundert und geliebt war.
Noch eine vierte Person befand sich im Zimmer. Das war Boel. Sie hatte ihren Play an dem Fenster, das am
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Und da meinten wir,
„ Das war hübsch von Ihnen. Bitte, nehmen Sie Play." .Danke," sagten sie beide und wollten sich setzen. Aber im selben Augenblick gewahrten sie Boel und blieben mit einem kleinen staunenden Ausruf stehen, während die eine von ihnen eine Lorgnette vor die Augen hielt.
„ Eine kleine Freundin vom Lande," erklärte Frau Gylling mit ihrem sanften Tonfall und nickte dabei freundlich zu Boel hinüber, die blutrot auf der Kante ihres Stuhls iaß und nicht wußte, ob sie aufstehen oder sitzen bleiben sollte. ,, Sie ist reizend!" flüsterte die Dame mit der Lorgnette Frau Gylling zu.
a, ganz reizend!" flüsterte auch die andere. St!" Frau Gylling hob warnend die Häkelnadel. Nehmen Sie jetzt doch, bitte, Platz. Und lassen sie uns miteinander reden."
Die beiden Damen setzten sich.
Fräulein Drehling aber benußte die Gelegenheit, um sich zu verabschieden. Sie hatte über eine Stunde dagesessen und gab nun die Hoffnung auf, den zu sehen, um dessen willen fie gekommen war. In ihrer Verstimmtheit nahm sie sehr fuez Abschied. Die kleine Dame am Fenster erhielt nur ein Kopfaiden im Vorübergehen.
Es war jetzt auch die höchste Zeit, daß sie fortfam. Draußen auf dem Vorplay begegnete fie einer neuen Gruppe von Besuchern, und diesmal gehörten sie Frau Gyllings volkstümlichem" Freundeskreis an. Da war die Juſtize rätin Blomberg mit ihren beiden Töchtern, Fräulein Gudrun und Fräulein Vergliot. Sie hatte sie schon früher einmal hier getroffen und mußte deswegen stehen bleiben und ein paar Worte wechseln, wobei sie sich einer fleinen Umarmugg von seiten der Justizrätin nicht erwehren konnte, die umherging und ihre Mitmenschen mit einem übertriebenen Bedürfuis, Liebe zu zeigen, belästigte. Auch die jüngste von den Töchtern, die zwanzigjährige Bergliot, die lodiges Haar hatte und deswegen für eine Schönheit galt,- näherte sic ihr mit aufdringlicher Liebenswürdigkeit, wohingegen die