Anterhaltungsblatt des Vorwärts Nr. 177. Donnerstag, den 13� September. 1906 (Nachdruck verboten.) 8] Die Sandinger Gemeinde. Novelle von Henrik Pontoppidan . Autorisierte Uebersetzung aus dem Dänischen von Mathilde Mann Es waren Arbeiter von dem Eisenbahntcrrain: und das Schwere, das sie zwischen sich trugen, war eine Bahre, auf der ein verunglückter Kamerad ausgestreckt lag, mit zerlumpten Mänteln und Arbeitsjacken bedeckt. Man konnte gerade noch sein wachsbleiches Gesicht init den geschlossenen Augen und einem struppigen rote» Bart um die blaugeschwolleneir Lippen sehen. Von der Unterseite der Bahre tropften bei jeder ein wenig stärkeren Bewegung Lachen dunkelroten Blutes in den Schnee hinab. Ein paar Hunde, die aus den Gehöften gestiirzt waren, beschnüffelten das Blut und kratzten es dann mit den Hinterpfoten zu. Mit einem eigenen Schaudern nahmen die Leute im Dorf die Nachricht auf, daß Lavs— der Mann der schwarzen Lone— der Verunglückte war. Mit einigen anderen Ar- beitern war er beschäftigt gewesen, eine Schicht losen Sandes unter eineni großen Knollen halbgefrorener Erde heraus- zugraben, als dieser plötzlich auf sie herabgestürzt war. Die anderen hatten gerade noch Zeit zu entweiche� Lavs aber, der seine Bierflasche hatte retten wollen, kam nur zur Hälfte heraus und bekain die Erdmasse auf seinen Rücken. Man hatte ihn schnell herausgegraben, aber es war etwas an ihm entzweigegangen, und das eine Bein war gebrochen, so daß die Knochcnröhre aus deni Schenkelfleisch heraussteckte. Er lebte aber noch, obwohl er ganz wie eine Leiche aus- sah. Man konnte ihn deutlich stöhnen und ihn besinnungslos jammern und mit den Zähnen knirschen hören. Lben auf den Hügeln erschollen schon wieder die Pfeifen- triller des Ingenieurs, und ein neuer Schuß folgte. Es waren inzwischen Anstalten gemacht, einen Wagen nach dem Arzt zu schicken. Die Dunkelheit brach herein,— die Nacht stand schon in dicken, blauschwarzen Wolkenbänken über dem Moor. Erst nach Verlauf von fast einer Viertel- stunde fuhr der Wagen davon, und es waren zwei Meilen bis zur Stadt, wo der Arzt wohnte. Die Stunden vergingen. Der schwarze Himmel senkte sich aus die Erde herab, und der Schnee schwebte hernieder wie ein Regen von Sternenleichen. Die Straße war wieder leer, aber in Türen und Toren standen Leute und sahen schaudernd zu Lones kleinem Haus an dem Hügel hinaus, wo das Licht durch die Fensterscheiben schimmerte. Einige wollten wissen, daß Lavs wieder zur Besinnung gekommen sei, andere erzählten, er sei tot. Alle standen sie da und warteten, daß der Arzt kommen sollte, und rings umher sprach man davon, wie verkehrt es sei, daß man in der Eile vergessen hatte, Schaufeln in den Wagen zu legen. Denn der Schnee fiel immer dichter und dichter, und es hatte angefangen ein wenig zu wehen, so daß sich in den Hohlwegen leicht Schnceschanzen ansammeln konnten. Da tauchte eine kleine Gesellschaft auf der Straße auf, von einer Laterne geleitet. Es waren der Freischullehrer Povelsen und seine Frau mit noch ein paar anderen Leuten aus dem Dorf, die zur Abendandacht und Blutwurst im Pfarrhause gewesen waren. „Ja, Gottes Hand fällt schwer auf die Widerspenstigen," sagte Frau Maren, sie hing sich an den Arm ihres Mannes, aus Furcht zu fallen.„Aber vielleicht wird dies nun der Weg zur Errettung für Lone. Gott gebe es!" Povelsen sagte merkwürdigerweise nichts. Erst gegen Mitternacht kehrte der Wagen mit dem Arzt zurück. Da lebte Lavs noch. 7, Der Frühling war in Kopenhagen eingezogen. Er sauste im schneidenden Wind durch die Straßen, schlug mit Hagel und Regen gegen die Fensterscheiben, schmutzte die ganze Stadt mit Nebel und Schneeschlamm ein. Innerhalb der warmen vier Wände saß an einem Abend der Gyllingsche Familienkreis um die Lampe im Wohnzimmer versammelt. Kandidat Knud war liebenswürdig und las den Damen eine eben erschienene Novelle vor: „Leise bebend hing das feine kristallklare Licht des Früh- lingsmorgens in der stillen Luft und ergoß sich wie ein Regen von Gold über die breite, gepflasterte Straße, deren in regel- mäßigen Rechtecken zugehauene und mit Genauigkeit ab- gepaßte Granitsteine noch den Tau der Nacht auf ihrer glänzenden Oberfläche trugen. Aber von hier wurde es wieder in glänzenden, einander stetig kreuzenden Strahlen- bündeln zurückgeworfen, oder es wurde gleichsam in un- zähligen kleinen, glitzernden Sternen fortgestäubt, die über die Steine dahinhüpften, während einzelne große Wasserlachen in dem für eine so große Stadt ungewöhnlich schlechten Straßenpflaster mit leichten, von eineni leisen Morgenwind hervorgerufenen Kräuselungen auf der schwarzblanken Ober- fläche dalagen, an nachlässig hingeworfene moirierte, mit Goldflitter übersäte Stücke Seidenstoffs erinnernd..." Frau Gylling saß wie gewöhnlich in ihren Stuhl zurück- gelehnt und ging ihren eigenen Gedanken nach. Ihre Augen ruhten auf Knud, und dort verweilten auch ihre Gedanken. Es wollte ihr scheinen, als ob sich sein Wesen in der letzten Zeit verändert habe. Er war so fieberhaft und so geistesabwesend, daß man kaum mit ihm reden konnte. Offenbar bedrückte ihn etwas. Hierauf deutete auch seine plötzliche Neigung, die Abende im Schöße der Familie zuzubringen. Das sah ihm so gar nicht ähnlich. Er hatte scheinbar geradezu einen Wider- willen dagegen, auszugehen. Frau Gylling dachte das Ihre dabei. Sic hatte bemerkt, daß sich Agnete Drehling gänzlich von ihm zurückgezogen hatte, nachdem Knud seine zweite große, freisinnige Rede im Studentenklub gehalten. Jedenfalls hatte sie sie seit der Zeit nicht ein einziges Mal besucht, und Frau Gylling vermutete aus dieseni Grunde, daß es zu einem Bruch zwischen den beiden Kindheitsfreunden gekommen sei, was Knud sicher sehr zu Herzen gegangen war. Ter gute Junge! Er mußte es nun erfahren, was es heißt, für seine Ueberzeugung leiden! Im übrigen würde sein Martyrium gewiß nicht lange währen. Agnete gab schließlich doch nach, und das alte, gute Ver- ständnis würde wieder hergestellt werden. Zwischen Frau Gylling und Fräulein Rosalie die ebenfalls nicht sehr aufmerksani zu sein schien und jedenfalls klapperschlangenhaft mit ihren hölzernen Stricknadeln lärmte, — saß eine andere ältere Dame mit einem großen beschleiften Kopfputz und einer Hornbrille. Das war die Konfistorial- rätin. Sie wohnte allein in ein paar Zimmern in dem oberen Stockwerk, kam aber jeden Abend zu Frau Gylling herunter, wo sie allmählich als zur Familie gehörig betrachtet wurde. Trotz ihres klingenden Titels war sie eine äußerst bescheidene alte Dame, die gern plaudern mochte, nie aber das Wort ergriff, ehe sie sich vergewissert hatte, daß kein anderer etwas sagen wollte, und die trotz ihrer Redseligkeit nie einem Menschen widersprochen hatte. Jetzt saß sie da, ein wenig buckelig, und sah so gut und altmodisch aus, während sie sich mit einer Stickerei aus uralten Zeiten abmühte. Boel war auch da. Sie war jetzt ganz mit ihrem neuen Heim verwachsen und bewegte sich unbefangen, fast ein wenig zu flott zwischen den vielen fremden Menschen. Frau Gylling legte wirklich Ehre mit ihr ein. Ihre Schönheit und ländliche Frische hatten sie zu aller Liebling gemacht. Namentlich das ältere Fräulein Blomberg—„die Hopfenstange", wie Knud sie nannte— hatte ihre Liebe auf sie geworfen. Ueberall in der allerbesten Gesellschaft nannte sie sie ganz offen ihre Freundin; und wenn sie zu Besuch kam, saß sie die ganze Zeit neben Boel, den Arm beschützend um ihre Taille ge- schlungen, und litt es kaum, daß sich andere ihr näherten. In der allerletzten Zeit hatte Boels Frische freilich ein wenig Einbuße erlitten. Sie war auch stiller, in sich gekehrter geworden. Frau Gylling war wirklich oft ein wenig besorgt um sie. Natürlich fehlte ihr die Landluft und das ganze ungebundene Leben in Gottes freier Nahirl Die Nachricht von dem traurigen Unglück, das ihren Vater betroffen, hatte wohl auch ihr Teil dazu beigetragen Der arme Mann war ja ein Krüppel für Lebenszeit geworden. und die Armut regierte schon vorher in ihrem Heim, da ws«
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23 (13.9.1906) 177
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