Nnterhaltungsblatl des Dorwärts Nr. 178 Freitag, den 14. September. 1906 (Nachdruck verbotet!.) 9] Die Sandingcr Gemeinde. Novelle von Henrik Pontoppidan . Autorisierte Uebersetzmrg aus dem Dänischen von Mathilde Mann . Boel hörte nichts. Goldene Sterne schneiten vor ihren Augen, und das Blut sang ihr in den Ohren wie Sturm und Wogenschlag. Im Zimmer sammelte sie hastig ihre Näharbeit zusammen und ging dann mit einem kurzenGute Nacht" hinaus. Als sie durch das große Eßzimmer taumelte, das nur schwach erleuchtet war von dem Schein einer draußen brennen- den Gaslaterne, drehte sich ihr alles rund herum. Sie mußte sich an der Wand entlang tasten, um nicht zu fallen. Draußen in der Küche trank sie schnell ein wenig aus der Wasserkelle und sank dann vernichtet auf die Holzkiste nieder. Unten auf dem engen Hofraum, wo sonst alles füll war. fegte der Sturm heulend umher. Nur gerade vor dem Fenster hörte man das sich regelmäßig wiederholende Geräusch der durch eine Dachrinne fallenden Wassertropfen. Sie hatte ein Gefühl, als fei sie von einem sonnen- bestrahlten Berggipfel herabgestürzt. So viele kühne Hoff- nungcn hatten sie in der letzten Zeit durchzuckt. Sie hatte von einem so hellen, stolzen Glück geträumt. Und nun lag sie vernichtet in einem Abgrund von Schande und Demütigung. Weiter also hatte Kandidat Knud nichts von ihr gewollt'. Nur verführen wollte er sie! Aber das konnte ja nicht wahr sein. Es war Unmöglich. Er! Der Ritter des Bauernstandes! Der Fürsprecher der kleinen Leute! Nein, sie mußte ihn mißverstanden haben. Plötzlich sprang sie auf. Sie hatte seine schleichenden Schritte im Eßzimmer gehört. Gleich darauf tat sich die Tür auf. Er stand vor ihr. Stehen Sie hier?" rief er ganz überrascht aus. Was wollen Sie von mir?" sagte sie schnell, kühl, und krampfte sich mit den Fingern an den Rand des Küchen- tisches fest. Knud stand eine Weile mit sich selber ringend da. Dann erhob er den Kopf und sagte in ruhigem, beinahe befehlendem Ton: Ich glaubte, Sie hätten mich verstanden, Boel." Sie fühlte, wie ihr alles Blut zum Herzen strömte. Ihre Lippen waren kalt, und die Knie zitterten unter ihr. So war es also doch wahr! Sie konnte sich nicht länger aufrecht halten. Ohne es selber zu wissen, setzte sie sich wieder auf die Holzkiste nieder. Sie hatte in dieseni Augenblick nur zu einem Lust: ihm ins Gesicht zu spucken. Da aber tat er etwas, was sie nicht von ihm erwartet hatte. Er nahm still und bescheiden Platz neben ihr, wo im Grunde gar kein Platz war. und schlang seinen Arm um ihre Taille in einer so anständigen, liebevollen Weise, daß sie ihm unmöglich deswegen zürnen konnte. Ach nein, dachte sie, es kann ja doch nicht möglich sein, er hat es nicht so gemeint. Sie war dumm und mißtrauisch gewesen, das war das ganze. Und hör' nur! Jetzt sprach er zu ihr so gut und vernünftig wie zu einer Schwester. Sie solle nicht bange vor ihm sein, sagte er: er wollte ihr kein Leides antun. Nein, nein, das wollte sie auch nie mehr glauben, nicht einmal mehr denken. Er war so gut. Bis zu diesem Augenblick hatte sie eigentlich gar nicht gewußt, wie schrecklich lieb sie ihn hatte. Deshalb hatte es auch so weh getan vorhin mit dem Verdacht. Aber nun war sie nur um so glücklicher. Knud hatte vorsichtig versucht, ihr Gesicht zu sich empor zu heben: sie leistete auch keinen Widerstand: nur die Augen hielt sie niedergeschlagen. Da zog er sie sanft zu sich heran, und sie sank ihm in die Arme. Küß mich, Boel." flüsterte er,Du hast so schöne Lippen." Sie zögerte ein wenig, halb aus Schämigkeit, halb aus Berechnung. Willst Du mich nicht küssen?" fragte er und beugte sich tiefer zu ihr herab. Da schlang sie die Arme um seinen Hals und gab sich ihrem Glück ganz hin. Rings um sie her war es so nächtlich schweigend und still. Eine Maus hatte angefangen, an einer Papicrdüte in einem der Äüchcnschränke zu nagen. Sonst hörte man nur das�Gcräusch des Windes und die kleinen, bestimmten Tropfen- schlage gegen die Wasierrinne vor dem Fenster. Boel lag schwelgend an seiner Brust und ließ sich lieb- kosen. Sie lauschte förmlich ihrem eigenen Innern, während sie halb im Traum seine Hand vorsichtig über die ihre gleiten fühlte. Ihr Herz jubelte ihr durch alle die pochenden Pulse entgegen, und aus der kleinen siedenden Melodie, die das Blut lang, während es an ihrem Ohr vorüberrauschte, stieg gleichsam ein Chor von vielen fröhlichen Stimmen auf die in der stillen Abendluft weit über die grünen Wiesen klangen. Es war der Gesang der Gemeinde daheim, den sie wieder hörte. die lichte, fröhliche Verheißung, die ihre Seele unter die schirmenden Schwingen des Himmels hinaufgetragen hatte. Jetzt geleitete sie sie wie ein Brautgcsang in das gelobte Land des Glückes. Bist Du glücklich. Boel?" Sie lächelte schweigend. Dann hast Du mich ein klein wenig lieb?" Sie drängte sich fester an ihn. Aber warum warst Du denn vorhin so sonderbar gegen mich? Du wolltest mich ja kaum kennen, als ich kam." Ach, es war nichts." Ja, da war etwas. Was dachtest Du?" Darüber wollen wir jetzt nicht reden." Ja, jetzt will ich es wissen. Sag' mir. was es war." Ach, ich dachte zuerst schlecht von Dir. Ich glaubte Du hättest mich nicht lieb, nicht so wirklich lieb. meine ich." So, wirklich?" Ja, ich glaubte. Du wolltest mich bloß verführen. Und das machte mich so schrecklich unglücklich." Knuds Arm glitt an ihrer Taille herab. Er saß eine Weile da. ohne etwas zu sagen. Die Maus drinnen im Schrank, die einen Augenblick still gewesen war, fing wieder au mit ihrer Papierdüte zu rumoren. Und es war, als wenn dies Geräusch Boel plötzlich unruhig mache. Jetzt mußt Du gehen," sagte sie.Es geht nicht an. daß uns jemand hier trifft. Wenn die Mädchen kämen! Oder das Fräulein? Denn die dürfen es wohl nicht gleich erfahren? Oder wie meinst Du, daß es sein soll? Und was glaubst Du eigentlich, wird Deine Mutter dazu sagen? Wenn sie nur nicht böse wird! Davor ärgere ich mich am meisten." Knud war aufgestanden. Ja, es ist am besten, wenn ich gehe, Gute Nacht," sagte er kurz, ohne sie zu küssen oder ihr die Hand zu geben. Aber an der Tür blieb er stehen und wandte sich um. Und nach einigem Bedenken fuhr er. ein wenig stotternd, fort: Hier können wir uns nicht treffen. Niemand darf es wisien. Aber morgen abend um die Tcezeit kannst Du mich hier an der Ecke bei der Laterne treffen. Dann wollen wir ein wenig zusammen ausgehen." Aber wie läßt sich das nur einrichten? Ich pflege ja nie des Abends auszugehen. Und ich bekomme auch gar keine Erlaubnis. Ich kenne ja niemand." Du kannst ja nur sagen, daß jemand von Deiner Familie in die Stadt gekommen ist oder etwas dergleichen. Das mußt Du Dir selbst ausdenken. Also morgen abend um acht. Hier an der Ecke. Gute Nacht." Als Knud in sein Zimmer gekommen war, legte er sich auf sein Chaiselongue und zündete sich eine Zigarre am- Der Kopf war ihm heiß, er war sehr unzufrieden m.t sich. Es war alles durchaus nicht nach feinen Wünschen und Be- rechnungen gegangen. Im Grunde schämte er sich r.cht sehr über sich selbst. So begehrenswert Boel in ihr. r ganzen ländlichen Einfalt auch noch für ihn war er hätte in diesem Augenblick fast gewünscht, daß er sein Spiel nicht gewonnen hätte. 8.- Draußen auf dem Strandwege, so weit hinaus, daß da «och keine Dillen wareu, ging ein kleiner buckeliger Mann