Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 186.

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Mittwoch, den 26. September.

( Nachdruck verboten.)

Die Sandinger Gemeinde.

Novelle von Henrik Pontoppidan . Autorisierte Uebersetzung aus dem Dänischen von Mathilde Mann . In dieser Minute umwogte Boel ein Heuduft. Sie sah wie in einem Traum die grüne Wiese daheim, von Blumen wimmelnd, und sie hörte vor ihrem Ohr den Gesang der bielen, fröhlichen Stimmen, den Gesang von Lust und Glück und der seligen Wonne des Glaubens.

Und in ihrer Bewußtlosigkeit schluchzte sie einen Augen­

blick wie ein Kind, dem man ein Unrecht getan hat.

Als sie erwachte, stand der Mann über sie gebeugt und fragte, ob ihr schlecht geworden sei.

,, Sie sind am Ende nicht an so was gewöhnt?" Boel schüttelte den Kopf.

" Ich wußte nicht, daß er tot war," flüsterte sie nach einer Weile.

"

,, Ach so! Ja, für ihn ist es auch wohl ziemlich über­raschend gekommen. Ich glaube, es war ein Blutgerinsel. Aber können Sie wohl aufstehen? Hier soll jemand herein."

Zwei Männer famen mit noch einer Bahre, die mit einem Laken bedeckt war, über den Hofplay.

Wer ist das?" fragte der Mann, als sie vorüberfamen. Es wurde eine Krankheit und eine Stubennummer ge­nannt.

Na, ist die gen Himmel gefahren!" sagte er trocken und ging mit ihnen hinein.

Boel machte, daß sie fortkam.

Als sie aber zum Torweg hinaus war, überkam sie eine neue Angst. Wohin sollte sie gehen? Sie wußte feinen Rat. Es fing schon an zu dunkeln. Auf der Straße um­herzulaufen wie die letzte Nacht und angeredet und behandelt zu werden wie eine Dirnenein, das wollte sie nicht. Dann lieber kopfüber ins Wasser.

Da fiel es ihr ein, daß sie in einer der kleinen Straßen draußen auf Christianshafen, durch die sie gekommen war, als sie nach der Prinzeßstraße suchte, ein Haus mit einem Schild gesehn hatte, worauf" Rogierhaus" stand. Da mußte fie wohnen können, bis sie eine Stelle gefunden hatte. Es war eine so stille Straße gewesen, und das Haus hatte so ärmlich ausgesehen, da würde man sie gewiß aufnehmen. Sie wollte nicht sagen, daß sie kein Geld hatte, aber am nächsten Tage wollte sie dann hingehen und etwas von ihren Kleidern verkaufen.

So schleppte sie sich denn wieder den langen Weg hinaus in das andere Ende der Stadt und fand auch schließlich die stille, schmale Straße wieder und das armselige Haus mit dem Schild über der Eingangstür. Es war Madam Jakob­sens Kleines Schifferhaus".

Inzwischen war es finsterer Abend geworden. Drinnen in der Wirtschaft war die Lampe unter der Dede angezündet und beleuchtete vier, fünf Gestalten, die an den kleinen Tischen längst der rauchgeschwärzten Wände saßen und dösten. Es war Ole Nielsen, der Mann von den Düppler Schanzen mit seinem Leierkasten; er war bereits ganz betrunken. Seine blutunterlaufenen Augen schweiften suchend durch das Lokal wie um einen Gegner zu finden, den er mit seinem Krieger­blick vernichten könne. Ihm gegenüber saßen ein paar Häringshändler und sabbelten an ihrem Bier, während ein älterer, start tätowierter und überhaupt seemännisch aus­staffierter Brahmführer von Refshalen in erhabener See­mannsmajestät, eine Shagpfeife im Munde, allein für sich da saß und sich ein Bild des Ozeans selber auf seinem Stuhle ausbreitete.

Neben dem Schenktisch im Hintergrunde saß Olinens Freund", noch bleicher, noch hohlwangiger und vogelhalsiger als sonst und vollkommen unempfindlich für die Liebe, die Oline an ihn verschwendete. Aber mit Oline hatte es mun auch eine traurige Wendung genommen. Sie war ganz braunfleckig im Gesicht und hatte in der Mitte einen der­artigen Umfang bekommen, daß sie dadurch durchaus die Auf­merksamkeit und das Nachdenken ihrer Umgebung heraus­

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forderte, und dem die Stammgäste der Wirtschaft Senn auch schon die Bezeichnung die Drillinge" gegeben hatten.

Madam Jakobsen saß, ihre frikadellenförmigen Hände im Schoße, da und schlummerte ein wenig, wie eine Madonna von der ewig brennenden kleinen Lampe über der Geldschieb­lade beleuchtet. Plötzlich, bei dem Ton der Türglocke, hob sie Die schlafbelasteten Augenlider.

Boels verfrorene Gestalt drängte sich zur Tür herein und blieb dort stehen, mit ein Paar hülflosen Augen ängstlich um sich blickend. Oline, frag' sie, was sie will." Was will das Mädchen?" fragte Madam Jakobsen.

wo jezt eine kurze Unterhaltung geführt wurde. Boel war Oline stand auf und führte Boel hinter den Schenktisch, so angegriffen, daß sie nur die zur Erklärung notwendigsten Worte stammeln konnte, und Madam Jakobsen betrachtete sie deshalb anfänglich mit großem Mißtrauen, die Hände in die Seiten geſtemmt, um ihre Urteilskraft zu stärken.

Schließlich steckte sie den einen Daumen hoch in die Luft und sagte:

steht leer."

Oline! Bringe das Mädchen hinauf! Nummer drei Als sie gegangen waren, rückte Olinens Freund näher an den Schenktisch heran, trant ein wenig aus seinem Glase und sagte: Was für ein Mädchen! Das war wohl Ihre neue Kellnerin, Madam Jakobsen?"

"

Was redet er da?"

" Ich mein' man," sagte er und schloß das eine glas­artige Auge, während er mit dem anderen nach der Asche seiner Zigarre schielte: Oline fann doch mit der Figur hier nicht mehr lange herumgehen, und da meint' ich

Madam Jakobsen sah ihn an. Sie sagte nichts, schien aber zu überlegen.

Jetzt ging die Türklinke wieder. Es war der alte Schuster Semberlin mit dem grauen Zylinder auf der von Stiefel­wichse glänzenden Perücke. Seine fleine, behende Gestalt drehte sich an der Tür mit einem Guten Abend" rund herum, worauf er unter Ausführung der gewöhnlichen, umständlichen 3eremonien seinen Platz in der Ofenecke einnahm.

,, Einen mit Rum!" sang er halb und fing gleich an, fich hin und her zu wiegen, die Lippen vorgeschoben, die Hände zwischen die spitzen Knie gesteckt.

Oline hatte Bocl durch eine dunkle Stube in einen Hintergang geführt, von wo eine schmale, steile Treppe in das obere Stockwerk ging. Ganz oben hing eine Wandlampe und qualmte.

Auch hier war ein schmaler Gang, an dessen Ende wiederum eine kleine Wandlampe mit herabgeschrobenem Docht brannte. Hier öffnete Oline eine Tür zu einer Kammer mit einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl. Die Tapete hing in Feten von der Wand herab, und die Bettücher waren so schwarz wie das Handtuch eines Schmieds.

Nachdem sie ein Licht angezündet und ein Rouleau herabgelassen hatte, versuchte sie, eine Unterhaltung mit Boel anzuknüpfen; da diese aber ganz geistesabwesend war und nichts antwortete, als" Ja" und" Nein", entfernte sie sich mit einem Achselzucken.

" Ja, das Leben ist Dreck!" sagte sie nur, indem sie die Tür hinter sich zuwarf.

Unten in der Wirtschaft war inzwischen eine neue Per­sönlichkeit hinter dem Schenktisch aufgetaucht. Das war Madam Jakobsens nächtliche Gehülfin, eine winzig kleine, eingeschrumpfte Frau. Sie war zur Küchentür herein­gekommen und begrüßte Madam Jakobsen mit großer Unter­würfigkeit. Während sie ihre Kapuze und ein altes Imschlage­tuch abnahm und beides an einen Nagel bei der Tür auf­hängte, redete sie von dem schrecklichen Wetter und hauchte auf ihre kleinen, schmutzigen Finger.

Madam Jakobsen schenkte ein Glas Branntwein ein und gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, daß sie es heruntergießen könne.

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,, Gott John's Ihnen!" sagte die Alte mit Inbrunst. " Nummer drei ist besetzt, daß Sie das nicht ver­gessen," sagte Madam Jakobsen. Es ist ein Mädchen vom Lande; sie kam vorhin."