Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 201.

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Der Sumpf.

Mittwoch, den 17. Oftober.

( Nachdrud verboten.)

Roman von Upton Sinclair . Autorisierte Uebersetzung.

Merkwürdig wars eigentlich, daß auch Jonas seine Stellung durch das Unglück eines anderen bekommen hatte. Jonas mußte mit Schinken beladene Starren von den Rauch­zimmern nach dem Fahrstuhl, von dort nach den Badräumen Schaffen. Die Karren waren von Eisen und schwer, sechzig Schinken lagen darin, ein Gewicht von einer viertel Zonne. Auf dem unebenen Boden war es schwer mit den Starren vor­wärts zu fonumen für einen Mann, besonders wenn er fein Riese war. Dabei spionierte ein Aufseher beständig um ihn herum und fluchte über den kleinsten Aufenthalt. Litauer und Slovaken und solche, die nicht verstanden, was er sagte, wurden von den Aufsehern gestoßen und geschlagen wie Hunde. Deshalb befanden sich die Karren in ewiger Heze. Der Vor­gänger von Jonas war mun von einem Karren an die Mauer gedrückt und in schrecklicher Weise gequetscht worden.

Das waren alles traurige Fälle, aber Kleinigkeiten im Verhältnis zu dem, was Jurgis bald mit eigenen Augen sehen mußte. Schon am ersten Tage hatte er etwas Sonderbares entdeckt, bei seiner Anstellung als Schaufler der Eingeweide. Das war der Kniff der Aufseher, wenn eine tragende Kuh an die Reihe kam. Jeder, der etwas von der Schlachterei versteht, weiß, daß das Fleisch einer tragenden Suh zur Nahrung nicht geeignet ist. Solche Tiere hätten ja auch leicht zurückbehalten werden können, bis sie gekalbt hatten, aber um Zeit und Futter zu sparen, war es Regel, daß solche Stühe ruhig zwischen die anderen gestellt wurden. Dem Aufseher wurde dann ein Zeichen gegeben; dieser fing ein Gespräch mit dem Inspektor an und beide entfernten sich ein wenig. Die Kuh wurde mit den anderen ausgenommen und die Ein­geweide verschwanden. Es war nun Jurgis Arbeit, diese Ein­geweide in das Loch zu werfen, die ungeborenen Kälber und alles das andere. Unten, im Flur, nahmen andere Arbeiter diese ungeborenen Kälber, verarbeiteten sie zu Fleisch und ließen sogar die Felle nicht unbenutt.

Eines Tages glitt ein Mann aus und verletzte sich am Bein. Abends, als das letzte Stüd Vieh besorgt war, und die Männer nach Hause gingen, ward Jurgis zum Bleiben be­ordert, um die Arbeit des verlegten Mannes zu besorgen. Es war spät, beinahe dunkel und die Inspektoren alle fort. Nur noch einige Männer arbeiteten am Boden. Es waren am Tage 4000 Rinder geschlachtet, die mit Frachtwagen von fernen Staaten gefommen waren. Viele von ihnen waren berlegt, einige hatten gebrochene Beine und andere blutende Seiten. Einige waren gestorben, woran, wußte niemand. Alle diese Tiere wurden nun in der Stille der Dunkelheit besorgt"." Täuscher" nannten die Arbeiter diese Tiere, und das Backhaus hatte einen besonderen Fahrstuhl, auf dem sie zu den Schlachtbänken geleitet wurden, wo die Bande sie mit einer geschäftigen Gleichgültigkeit behandelte, die besser als Worte zeigten, daß es eine alltägliche Sache war. Sie brauchten ein paar Stunden, um sie aus dem Wege zu räumen. Zulegt sah Jurgis die Kadaver nach den Kälte­räumen bringen und zwar mit den anderen Fleischresten, so daß sie nicht erkannt werden konnten. Als er an diesem Abend heimkam, war er in sehr düsterer Stimmung; er hatte angefangen einzusehen, daß jene wohl recht gehabt, die ihn ob seines Glaubens an Amerika verlacht hatten.

6.

Jurgis und Ona waren sehr verliebt ineinander. Sie hatten lange gewartet. Beinahe zwei Jahre lang. Jurgis betrachtete alle Dinge nur unter dem Gesichtswinkel, ob sie die endliche Heirat förderten oder hinderten. Alle feine Ge­danken konzentrierten sich hierauf. Er nahm die Familie hin, weil es Onas Familie war, und er bekümmerte sich um das Haus, weil es Onas Heim sein sollte. Selbst die Kniffe und Grausamkeiten, die er bei Durham sah, hatten jest wenig Bedeutung für ihn, ausgenommen, wenn sie von Einfluß auf seine Heirat mit Ona waren.

Wenn es nach ihrem Willen gegangen wäre, so hätte die Heirat sofort stattgefunden, dann aber hätte die Hochzeit ohne

1906

das rechte Fest abgehalten werden müssen. Als sie das nur andeuteten, kamen sie in Streit mit den alten Leuten. Für Zeta Elzbieta besonders war diese Zumutung ein rechter Kummer. Wa?" schrie sie, verheiratet werden am Wege wie Bettler! Nein, nein!"

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Elzbieta hatte die Tradition für sich. In ihrer Jugend war sie eine wichtige Person gewesen, hatte auf einem großen Anwesen gewohnt, Dienstboten gehabt und hätte eine Dame sein tönnen. Nur waren neun Töchter und kein Sohn in der Familie. Aber sie wußte, was sich schickte und hing mit Verzweiflung an ihren Traditionen. Sie wollte nicht zu­geben, daß all ihr Standesbewußtsein verloren ging, wenn fie auch bis zu einfachen Arbeitern herabgefunken waren. und daß Ona auch nur daran denken konnte, keine veselija zu haben, machte ihrer Stiefmutter schlaflose Nächte. Ver­gebens ward ihr vorgestellt, wie wenig Freunde da seien. Sie würden Freunde haben und die Freunde würden darüber sprechen. Sie dürften wegen des bißchen Geldes nicht unter­lassen, was Sitte ist. Und wenn sie es auch unterließen, so würde das Geld ihnen keinen Segen bringen, das könnten sie ihr glauben. Elzbieta rief Dede Antanas zu Hülfe. In den Seelen dieser beiden hockte die Furcht, daß die Reise nach dem neuen Lande alle Heimattugenden in den Kindern ver­wischen würde. Am ersten Sonntage waren sie alle zur Messe gegangen, und so arm sie war, hatte Elzbieta es doch für nötig gehalten, einen Teil ihres Schatzes für eine Darstellung der Geburt in Bethlehem von Gips und mit prachtvollen Farben bemalt aufzuwenden. Obgleich es nur einen Fuß hoch war, hatte das Kunstwerk 50 Cts. gefoſtet. Aber Elisa­beth hegte die Ansicht, daß Geld für solche Dinge nicht ängstlich berechnet werden dürfe. Es würde gut angelegt sein. Das Stüd machte sich sehr schön im Wohnzimmer auf dem Kamin fims; man konnte doch kein Haus haben ohne solchen Schmuck. Die Kosten eines Hochzeitsfestes würden ihm ja auch zurückgezahlt werden aber man mußte das Geld erst be­fizen. Sie waren in der Gegend so kurze Zeit, daß sie un­möglich viel Kredit haben konnten. Nur bei Szedvilas hätten sie eine Kleinigkeit zu borgen gewagt. Abend für Abend be­rechneten Jurgis und Ona die Ausgaben und den möglichen Zeitpunkt ihrer Vereinigung. Für weniger als 200 Dollar fonnten sie es anständigerweise nicht herrichten, und obgleich sie mit Sicherheit auf Marijas und Jonas Einkünfte rechnen durften, so konnten sie doch nicht eher als in vier oder fünf Monaten die Summe zusammenhaben. Deshalb begann Ona daran zu denken, auch für sich Arbeit zu suchen. Sie meinte, wenn sie Glück hätte, so könnte sie die Wartezeit um zivei Monate verkürzen. Sie hatten sich schon daran gewöhnt, mit dieser Notwendigkeit zu rechnen, als ein Blitzstrahl aus heiterm Himmel auf sie niederfuhr und ihnen eine Verlegenheit be­reitete, die ihre Hoffnungen in alle vier Winde blies.

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Einige Häuser von ihnen entfernt wohnte eine andere litauische Familie. Sie bestand aus einer älteren Witwe und einem erwachsenen Sohne. Ihr Name war Majauskiene, und unsere Freunde hatten seit langem Bekanntschaft mit ihnen gemacht. Eines Abends kamen sie zum Besuch herüber, und das erste, wovon gesprochen wurde, war die Geschichte dieser Nachbarn. Dann erzählte Großmutter Majauskiene so wurde die alte Dame genannt wieder Geschichten, bei denen allen das Blut in den Adern erstarrte. Sie war eine verschrumpelte, vertrocknete Person, zählte achtzig Jahre und murmelte die Erzählung aus zahnlosem Munde hervor wie eine alte Here. Die Großmutter hatte so lange im Elend gelebt, daß es ihr reinweg zur Gewohnheit geworden war. Sie sprach vom Verhungern, von Krankheit und Tod, wie andere Leute von Hochzeiten und Festtagen sprechen. Die Sache hatte sich allmählich entwickelt. Zuerst das Haus, das fie gekauft hatten, es stand schon seit fünfzehn Jahren und nichts war neu an ihm als die Farbe, die aber so schlecht war, daß sie jedes Jahr erneuert werden mußte. Da Haus war von einer Gesellschaft gebaut worden, um Geld zu ge­winnen und arme Leute zu beschwindeln. Die Familie hatte 1500 Dollar bezahlt, das Haus aber hatte den Erbauern nur 500 gefoſtet, als es neu war. Großmutter wußte es, denn ihr Sohn gehörte einer Vereinigung an, die solche Häuser baute. Sie gebrauchten das billigste und schlechteste Material, sie bauten die Häuser dugendweise und legten auf weiter nichts