Mnterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 216. Mittwoch� den 7. November. 1906 (Nachdruck verboten.) 271 Der Sumpf. ?loman von Upton Sinclair . Autorisicrte llebersetzung. Weihnachten war nahe, und weil Schnee und Kälte noch anhielten, trug Jurgis sein Weib Morgen für Morgen an ihre Arbeitsstätte. Er wankte mit ihr durch den Schnee, bis in einer Nacht das Ende kam. Es war drei Tage vor dem Feste. Um Mitternacht kamen Marija und Elzbieta heim: sie waren in grotzer Er- regung, weil sie Ona nicht gesunden. Nachdem sie auf sie gewartet, waren sie nach Onas Arbeitsraum gegangen und hatten dort erfahren, daß die Näherinnen schon vor einer Stunde entlassen waren. Schnee lag nicht, auch waT es nicht besonders kalt, und doch war Ona nicht gekommen! Was hatte sie zurückgehalten? Jurgis hörte die Geschichte ver- drießlich an. Ona mußte wieder mit Jadvyga gegangen sein, vielleicht war sie wieder zu müde gewesen. Geschehen konnte ihr nichts sein, und selbst, wenn es der Fall war, bis zum Morgen war nichts zu machen. Jurgis drehte sich im Bette um und schnarchte, ehe die beiden die Tür geschlossen hatten. Am Morgen war er jedoch eine Stunde vor der Zeit auf. Jadvyga Marzinskus wohnte mit Mutter und Schwester an der anderen Seite der Höfe, in einem einzigen kleinen Keller- zimmer. Ihre Heiratspläne hatte sie für immer aufgegeben — Mikolas hatte durch Blutvergiftung eine Hand verloren. Das Zimmer lag an der Hinterseite des Hauses, und man erreichte es, wenn man durch einen langen Hof schritt. Jurgis sah Licht im Fenster, als er näher kam: er klopfte, halb in Erwartung, daß Ona antworten würde. Statt dessen kam eine von Jadvygas kleinen Schwestern. Sie starrte Jurgis an. „Wo ist Ona?" fragte er. „Ona?" fragte das Kind erstaunt zurück. „Ja, ist sie nicht hier?" „Nein," erwiderte das Kind, und Jurgis fuhr zusammen. Einen Augenblick später schaute Jadvyga um die Ecke, zog sich aber zurück, als sie Jurgis erblickte: sie war noch nicht fertig angezogen. Jurgis möchte sie entschuldigen, rief sie. Ihre Mutter wäre krank— „Ona ist nicht hier?" fragte Jurgis dazwischen, viel zu erschreckt, um das Ende der Rede abzuwarten. „Nein!" entgegnete Jadvyga.„Wie kommst Du darauf, daß sie hier sein könnte? Hat sie's gesagt?" „Nein! Aber sie ist nicht heimgekommen, und ich glaubte es, sie wäre mit Dir gegangen wie voriges Mal." „Wie voriges Mal?" sprach Jadvyga verwirrt nach. „Als sie die Nacht hier blieb," sagte Jurgis. „Das ist ein Irrtum!" sagte das Mädchen rasch.„Ona ist niemals eine Nackt hier geblieben." Es war ihm nicht möglich, den ganzen Umfang dieser Antwort zu begreifen. „Wie? Wie?" rief er.„Vor zwei Wochen— Jadvyga! Sie sagte es mir. Es schneite, und sie konnte nicht gehen." „Es muß ein Irrtum sein," wiederholte das Mädchen. „Sie kam nicht hierher." Er trat auf die Türschwelle, und Jadvyga, welche Ona sehr gern hatte, öffnete erschreckt, ihre Jacke vor die Brust haltend, die Tür. „Bist Du sicher, daß Du sie nicht mißverstanden hast?" schrie sie.„Sie muß etwas anderes gemeint haben. Sie—" „Sie sagte, hier!" beharrte Jurgis.„Sie erzählte mir alles von Dir, wie Du gewesen wärest, was Du gesagt hättest. Bist Du ganz sicher? Hast Du's nicht vergessen? Oder warst Du vielleicht nicht da?" „Nein, nein!" rief sie— sie wurde von einer verdrieß- lichen Stimme unterbrochen, welche aus dem Zimmer kam: „Jadvyga, das Baby bekommt Zug. Mach die Tür zu." Jurgis blieb noch eine halbe Minute stehen und stotterte noch einige Worte durch die Türspalte. Dann ging er weg. Halb betäubt ging er, ohne zu wissen wohin. Ona hatte ihn betrogen! Sie hatte ihn belogen! Was konnte das be- deuten? Wo war sie gewesen? Wo war sie jetzt? Er konnte nicht denken, viel weniger recht klar mit sich selber werden. Hundert Möglichkeiten durchschwirrten sein Hirn— ihn überkam die Ahnung eines kommenden Unglücks. Weil er weiter nichts zu tun wußte, ging er wieder zu dem Stationsburcau, um dort zu warten. Er wartete bis 8 Uhr, dann ging er in Onas Arbeitsraum, um Onas Aufseherin nach seiner Frau zu fragen. Aber Onas Aufseherin war noch nicht gekommen, denn auf allen Linien der Straßenbahn war der Betrieb wegen eines Borfalles im Krasthouse schon am vergangenen Abend eingestellt. Die Näherinnen arbeiteten unter einer Ersatz- aufseherin. Das Mädchen, welches Jurgis Bescheid gab, tat sehr geschäftig und sah so ängstlich aus, als würde sie bewacht. Jetzt kam ein Mann mit einein Karren in den Raum. Er kannte Jurgis und trat neugierig näher. „Es mag sein, daß die Bahn schuld ist," vermutete crj „vielleicht ist sie zur Stadt gegangen." „Nein," sagte Jurgis,„sie ging niemals zur Stadt." „Vielleicht nicht!" sagte der Mann. Jurgis glaubte zu sehen, daß der Mann einen Blick mit dem Mädchen wechselte und fragte rasch:„Was weißt Du davon?" Aber der Mann hatte keine Zeit mehr, er lief fort. „Ich weiß nichts davon!" rieß er nur noch über die Schulter.„Wie kann ich wissen, wohin Deine Frau geht?" Jurgis ging wieder hinaus und wanderte vor dem Gebäude auf und ab. Er blieb den ganzen Morgen, ohne an die Tnngerfabrik zu denken! Um Mittag ging er zur Polizei- station, um Nachfrage zu halten, und nahm dann seine Wan- derung vor dem Gebäude wieder auf. Gegen Abend erst ging er heim. Er kam durch die Ashland Avenue. Die Wagen liefen wieder: einige begegneten ihm, bis obenhin mit Leuten bepackt. Der Anblick brachte ihm des Mannes sarkastische Bemerkung in Erinnerung. Unwillkürlich bewachte er die Wagen und plötzlich schrie er auf— und blieb stehen. Er rannte vorwärts— und blieb immer nur wenig hinter dem Wagen zurück. Jener alte abgefärbte schwarze Hut mit der geknickten roten Blume mußte ja nicht gerade Onas Hut sein, aber er glich ihm sehr. Jurgis würde bald Gewißheit haben, tveil Ona, wenn sie es war, in kurzem aussteigen mußte. Sie stieg ans— und Jurgis stürzte ihr nach. Der Argwohn war jetzt riesengroß in ihm gewachsen. Er sah sie ins Haus treten! Er wandte sich ab— fünf Minuten lang ging er auf und ab, seine Hände krampften sich zusammen, er biß die Zähne aufeinander— sein ganzes Wesen war in Aufruhr� Dann trat er ins Haus. Als er die Tür öffnete, sah er Elzbicta, welche Ona auch! gesucht hatte und vor kurzem erst heimgekommen war. Sie legte den Finger auf die Lippen. „Mach keinen Lärm!" flüsterte sie hastig. „Was ist?" fragte er. „Ona schläft!" stöhnte sie.„Sie ist sehr krank— ich glaube, sie ist ganz von Sinnen. Jurgis! Sie hatte sich diese Nacht aus dem Wege verirrt, und ich habe sie eben zur Ruhe gebracht." „Wann kam sie?" fragte er. „Bald nachdem Du heute Morgen fortgegangen warst,'* sagte sie. „Ist sie seitdem ausgewesen?" „Nein, gewiß nicht. Sie ist so schwach, Jurgis: sie— w Er knirschte mit den Zähnen. „Es ist nicht wahr!" sagte er- Elzbieta wurde bleich. „Wie!" stotterte sie.„Was meinst Du?" Aber Jurgis antwortete nicht. Er stieß sie zur Seite und ging in das Schlafzimmer. Ona saß auf dem Bette, Ihr entsetzter Blick flog zu ihm. Er schloß die Tür vor Elz « bieta und ging zu seiner Frau. „Wo bist Du gewesen?" Ihre Hände lagen krampfhaft verschlungen in ihrem Schöße, und ihr Gesicht war totenblaß und verzerrt. Sie ver- suchte zweimal vergeblich zu antworten, dann sagte sie leise und hastig: „Jurgis— ich— ich war von Sinnen. Ich wollte gestern Abend heimgehen und konnte den Weg nicht finden. Ich ging, ich ging die ganze Nacht— glaube ich— heute Morgen kam ich heim— heute Morgen."
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23 (7.11.1906) 216
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