- 898 Die Kinder sind seit drei Tagen nicht nach Zause ge- kommen, das Wetter ist ja so schlecht. Sie konnten nicht wissen, was hier vorging es kam ja ganz plötzlich, zwei Monate eh' wir es erwarteten." Jurgis stand am Tisch, und er hielt sich mit beiden Händen fest, um nicht umzufallen: sein Kopf sank aus� die Brust, und seine Arme bebten es sah aus, als ob er völlig zusammenbrechen werde. Da stand Aniele plötzlich auf und kam auf ihn zugehumpelt, indem sie in ihrer Tasche herum- suchte. Sie zog einen schmutzigen Lappen heraus, in dessen sEcke etwas eingeknotet war. Hier, Jurgis!" sagte sie.Ich habe etwas Geld. BPulauI:! Sehen Sie?" Sie wickelte es aus und zählte es vierunddreißig Cents.  Nun gehen Sie hin und versuchen Sie selbst, irgend jemand zu bekommen," sagte sie.Und vielleicht können die anderen auch ein bißchen helfen, gebt ihm ein wenig Geld, Ihr alle: er wird es schon einmal zurückzahlen, und es wird ihm gut tun, etwas zu tun zu haben, selbst wenn es ihm nicht gelingt. Und vielleicht ist es vorüber, wenn er zurückkommt." So kehrte also auch die anderen Frauen ihre Taschen um: die meisten von ihnen besaßen nur Kupfer- und Nickel- münzen, aber sie gaben alles hbr. Mrs. Olszewsky, die nebenan wohnte und einen Mann hatte, der ein sehr ge- schickter Schweineschlächter, aber ein Trunkenbold war, gab fast einen halben Dollar, womit die ganze Sammlung einen und einen viertel Dollar ergab. Dann steckte Jurgis es in die Tasche, wo er es fest mit der Hand umklammert hielt, und machte sich im Laufschritt auf den Weg. 19. Madame Haupt, Hebamme," stand auf einem Schild, das über einem Schanklokal der Avenue an einem Fenster des zweiten Stockwerks schaukelte, an einer Seitentür befand sich ein zweites Schild mit einer Hand, die auf eine un- saubere Treppe deutete. Jurgis lief die Treppe hinauf, in- dem er drei Stufen auf einmal nahm. Madame Haupt briet gerade ein Gericht Schweinefleisch mit Zwiebeln und hatte die Tür ein wenig geöffnet, um den Dunst hinauszulassen. Als er zu klopfen versuchte, ging sie ganz auf, und er konnte die Frau einen Moment sehen, wie sie mit einer schwarzen Flasche am Munde dastand. Tann klopfte er lauter, sie erschrak und stellte die Flasche weg. Sie war eine Holländerin, eine ungeheuer dicke Person, wenn sie ging, schaukelte sie wie ein kleines Boot auf dem Ozean, und die Schüsseln im Schranke klirrten und klapperten. Sie trug einen von Schmutz starrenden blauen Morgenrock und hatte schwarze Zähne. (gortsefeimg folgt.) (Nachdruck vervolen.) Verbrechen und Aberglaube. Von M. M a d e r. Man gebe sich nicht dem Wabne hin, im 20. Jahrhundert, mehr als hundert Jahre nach demJahrhundert der Aufklärung" hätte Aberglauben mannigfacher Art keine Wurzeln mehr im Volksglauben. Der aufmerksame Beobachter wird vielmehr das Gegenteil feststellen müssen. Nicht genug damit, daß Jahrhunderte, ja Jahr- taufende alter Volksglaube in Hülle und Fülle noch in allen deutschen   Gauen lebenskräftig sich erhalten hat, wird sogar mancher längst für überwunden erachteter Volks- glaube neu zu begründen versucht, oft genug sogar von Leuten, die wissenschaftlichen Ruf besitzen. Es sei nur kurz erinnert cm die Wünschelrute, an das Wiederaufleben der Chiromantie und Astro- logie, an die Geisterseherei der.60 Millionen Spiritisten", an die kaum verständliche Tatsache, daß Hexenglaube, Besessenheit, Vam- pyrismus und anderes von vielen, sogar naturwissenschaftlich ge- bildeten Männern fiir begründet erächtet werden. Wie lebenskräftig aber dieser und tausenderlei anderer Volks- glaube auch in unserem kulturstolzen Zeitalter der Maschinen und Elektrizität ist, das zeigt unwiderlegbar die traurige Tatsache, daß jahraus, jahrein sich auch deutsche, französische und englische Richter mit zahlreichen Verbrechen zu befassen haben, deren Motiv finsterster Aberglaube ist. Besonders der uralte Hexenglaube ist es, welcher noch in den Köpfen der Leute spukt und zu zahlreichen Beleidigimgsprozesscn Anlaß gibt. Aber auch Körperverletzungen komnieu vor, indem man zum Beispiel in Wcstpreußen glaubt, ein Epileptischer, dem seine Krankheit.angehext" sei, könne nur dadurch geheilt werden, daß er mit dem Blute der Hexe bestrichen werde. Vor zwei Jahren erst wurde in Löbau   eine Frau, die eine derartige gewalttätige Kur vor- genommen hatte, unter Zubilligung mildernder Umstände zu 30 M. Geldstrafe verurteilt. Immer noch kommt eS vor, daß die angeblichen Hexen den Wahnglanben der anderen mit dem Tods büßen müssen. Besonders die französische   Kriminalgeschichte der letzten Jahrzehnte weiß grausige Beispiele zu berichten. Im Jahre 1820 röstete im Departement Lourdes   ein altes Ehepaar eine von ihnen als Hexe angesehene alte Frau bei lebendigem Leibe im Backofen. Vor zwei Jahren erst der- teidigte ein Maurer vor dem Pariser Schwurgericht den von ihm an eineinZauberer" verübten Mord in so eigenartiger ergreifender Weise, daß die Geschworenen das Nichtschuldig aussprachen. Und kürzlich erst tötete gleichfalls in der Stadt der Intelligenz eine junge Schneiderin eine ehemalige Freundin in der Meinung, jene habe ihr das Lebenslicht ausgeblasen" und sie müsse nun unrettbar dahinsiechen. Ueberhaupt sind Mordtaten aus Aberglauben weit häufiger, als das große Publik,»» ahnt. Die mannigfachsten Ideen führen zu diesen grausigen Taten und man kann oft glauben, daß es fich um psychopathologische Ausgeburteu eines kranken Gehirns handelt. So glaub, man auch heute noch, durch Genuß von Memchenfleisch über- natürlicher Kräfte teilhastig zu werden. Aus dem Mittelalter find uns viele derartige Fälle überliefert, wo Bösewichte oft Dutzeude unschuldiger Mitmenschen ermordet hatten, um ihr Herz zu essen und fich sonnfichtbar machen zu können. Forscher wieManhardt undLöwenstimm haben uns viele derartige Mordtaten besonders aus den slawischen Ländern überliefert. Aber auch das moderne Deutschland   hat solche traurigen Prozesse erlebt. So spielte derartiger Aberglaube nicht nur vor zwei Jahrzehnten zu Oldenburg   eine Rolle in eurem Prozeß gegen einen gewissen Bliefernicht, sondern auch in diesem Jahre erst bei einer Verhandlung gegen einen dreifachen Mörder in Augsburg  . Auch der aus demAnnen Heinrich" des Hartmann von Aue  bekannte Glaube, daß Blut ein besoirderer Saft ist. hat nicht bloß in früheren Zeiten zahlreiche Opfer unschuldiger Kinder gefordert, noch vor wenigen Dezennien erst drückte er in der Schweiz   einem Epileptiker den' Mordstahl in die Hand und flößte ihm die Hoffnung ein, sich mit dem Blute seines Opfers von seiner Krankheit zu heilen. Häufig sind auch Fälle, wo Kinder ermordet werden, um mit ihrem Blute die Erde zu tränken und auf diese Weise die Macht böser Dämonen zu brechen, welche die Schätze im Schoß der Erde hüten. Im September vorigen Jahres erst wurde im russischen Gouvernement Mohilew ein Unmensch dingfest gemacht, der den entsetzlichen Plan gefaßt hatte, fünfzig unschuldige Kinder den Erd- dämonen zum Opfer zu bringen, in dem Glauben, dann unermeß- licher Schätze teilhaftig zu werden. Neun Kinder waren in diesem Wahne schon hingeschlachtet, che es gelang, den Unmenschen unschäd- lich zu machen. Mißgeburten werden stir Wechselbälge gehalten, welche von den Unterirdiichen an Stelle des wirklichen Kindes unter- geschoben werden. Unbarmherzig werden diese arme» Würmer von den eigenen Eltern gcmardert, um dieimierirdische Mutter" zu veranlassen, ihren Balg wieder umzutauschen. Zahlreiche Beispiele aus den letzten Jahrzehnten sind dem Kulttirhistoriker bekannt. Zäh hält fich auch die aus der Zeit des Dämonismus stammende Auffassung mancher Krankheiten als eines Beseffenseins vom Teufel. Die Prozeduren, die vorgenommen werden, um den Teufel aus- zutreiben, führen oft genug zum Tode des bedauernswerten Pattenten. Nicht nur durch Exorzismus sucht man dem Dämonen seinen Aufenthaltsort zu verleiden, sondern auch durch Räucherungen. Be- Handlung mil Feuer, Schlägen und dergleichen- Ost genug ist die Kur von Erfolg gekrönt, indem der Kranke seinen Geist aufgibt. Sicherlich gehen auf diese Volksanschauung viele Fälle von grau- sanier Mißhandlung Geisteskranker durch die eigenen Eltern oder Kinder zurück, von denen die Zeitungen öfters berichten. Mit Absicht haben wir bei diesen grausigsten Ausgeburten des Aberglaubens länger verweilt. Denn soviel ist klar: Wenn der Abergläubische auch heute noch derartiger brutalen antisozialen Handlungen fähig ist, dann gibt es überhaupt kein RechlSgui, welches zu verletzen er sich nicht erkühnen würde. Und in der Tat kann man sagen, daß es keine einzige Straftat gibt, bei welcher nicht krimineller Aberglaube in dieser oder jener Hinficht mit im Spiele sein könnte und ist der Tat auch heutzutage noch ist. Zahlreiche Leichenschändungen werden jahraus, jahrein zu dem Zwecke vorgenommen, Leichenteile als glückbringenden Zauber zu benutzen. Kürzlich erst verurteilte das Amtsgericht von Schrimin jemand, der mehrere Leichen entsetzlich geschändet hatte, um fich Totenfetische anzueignen, zu einer längeren Gefängnisstrafe. Auch der Glaube an die verderbenbringende Macht gewisser Toter, der Vampyrglaube, verursacht alljährlich zahlreiche Leichenschändungen, indem man den Toten mit einem Pfahl durchbohrt, ihm den Kopf abhackt oder sonst ihm die Rückkehr unmöglich zu machen sucht besonders zwar in slawischen Ländern, doch auch in Westeuropa  . Nur kurz könne» wir erwähnen, daß zahlreiche Anbohrungen von Bäumen vorkommen bei der Prozedur des EinpflöckenS oder Verkeilens, wobei man Partikelchen des kranken Körpers auf die Bäume überträgt und diesen hiernttt auch die Krankheit selber ein« zupfropfen meint. Analog glaubt man auch auf Mensch und Tier Krankheiten übertragen zu können, und läßt sich dadurch oft genug zu Sodomie, Notzucht und anderen Sittlichkeits- delikten hinreißen. Selbst Vermögensdelikte, wie der Dieb- stahl, können auf abergläubische Motive zurückgehen. So wird geglaubt, ei» mit gestohlenem Gclde gekauftes Lotterielos müsse imbedingt gewinnen, gestohlener Speck sei ein gutes Heil- mittel gegen Warzen oder gestohlener Kuchen sei zu einem LiebeS-