sagte Jurgis betrübt. Dann erzählte er ihm, wie er denletzten Sommer verbracht hatte, als Landstreicher unteranderen Vagabunden.„Und Sie?" fragte er schließlich.fcSind Sie seitdem immer hier gewesen?"„O Gott, nein!" erwiderte der andere...Ich bin erst seitvorgestern hier. Es ist schon das zweite Mal, daß sie michauf eine erschwindelte Anklage hin einsperren,— ich habe Pechgehabt und kann nicht zahlen, was sie verlangen. Warumgehen Sie nicht mit mir zusammen aus Chicago fort.Jurgis?"—„Ich weiß ja nicht wohin," sagte Jurgis traurig.—„Das weiß ich auch nicht," versetzte der andere lachend.„Aber das wird sich schon finden, wenn wir erst wieder'rausfind."Jurgis traf im Bridewell nur ganz vereinzelt Leute,�ie schon das letzte Mal dagewesen waren, aber er lernte vieleandere, alte und junge kennen, die genau zu derselben Artgehörten. Es war wie Wellen am Meeresstrande: es war wieneues Wasser, aber die Welle sah genau ebenso aus. Als erzum erstenmal da war, hatte Jurgis eigentlich an nichtsanderes als an seine Familie gedacht: aber jetzt hatte er Mußeund konnte diesen Männern zuhören und sich immer wiederklar machen, daß er zu ihnen geHärte.Und so kam es, daß er sich, als man ihn ohne einenHeller in der Tasche aus dem Gefängnis entließ, geradeswegszu Jack Duane begab. Jurgis konnte sich nicht vorstellen,aus welche Weise er ihm werde nützen können; er wußte nicht,daß ein Mann wie er—• auf den man sich verlassen konnte,weil er fest zu demjenigen halten würde, der freundlich gegenihn war— unter Verbrechern ein ebenso seltener Vogel warwie unter anderen Menschenklassen.Die Adresse, die Jurgis besaß, lautete auf eine Dach-kammer im Ghettobezirk, die Wohnung einer hübschen kleinenFranzösin, Duanes Maitresse, die den ganzen Tag für Geldnähte und sich außerdem durch Prostitution Geld verdiente.ßr war anderswo hingegangen, wie sie Jurgis mitteilte,—er wagte sich dort nicht mehr aufzuhalten, wegen der Polizei.Die neue Adresse war eine im Keller gelegene Diebeshöhle,deren Wirt erklärte, daß er niemals von Jack Duane gehörthabe: aber nachdem er Jurgis gründlich ausgefragt hatte,zeigte er ihm eine Hintertreppe, die zu einem dicht hinter einemLeihhaus wohnenden Hehler führte, und dieser nannte ihmmehrere Lokale, in denen Duane sich versteckt hielt,Duane war erfreut, ihn zu sehen; er besaß keinenPfennig Geld, wie er ihm sagte, und hatte darauf gewartet,daß Jurgis kommen und ihm dazu verhelfen werde, sich welcheszu verschaffen. Er setzte ihm seinen Plan auseinander undverbrachte den ganzen Tag damit, seinem Freund allerlei ausdem Verbrecherleben der Großstadt zu erzählen und ihm zuerNären, wie er sich in dieser Verbrecherwelt sein Brot ver-dienen könne. Hier bei„Papa Hanson"(wie der alte Hehlergenannt wurde) konnte er sich in Frieden ausruhen, dennPapa Hanson war ein zuverlässiger Mann,— der würde ihmbeistehen, so lange er zahlte und ließ einem die Stunde zuvoreine Warnung zukommen, wenn eine Polizeirazzia in Aussichtstand. Und Rosensteg, der Leihhausbesitzer, kaufte alles zumDrittel des Wertes und garantierte dafür, daß die Sachen voreinem Jahre nicht ans Licht kamen.Sie aßen zusammen zu Abend; und dann begaben sie sichetwa um 11 Uhr nachts durch eine Hintertür aus die Straßehinaus: Duane mit einer Art Schleuder bewaffnet,— einemkurzen Strick, an dessen beiden Enden je eine schwere Metall-kugel befestigt war. Sie kamen in eine Gegend, die auseleganten Wohnhäusern bestand, und er kletterte an einerLaterne empor und drehte sie aus: und dann versteckten sich diebeiden in einem Kellereingang und hielten den Atem an.Nach einiger Zeit nahte der schwere Tritt eines Polizisten,und sie verhielten sich völlig regungslos, bis er verschwuitdenwar. Obwohl sie halb erstarrt waren, blieben sie doch nocheine volle Viertelstunde in ihrem Versteck,— 1 und dann nahtenwieder Schritte, und diesmal ging der Betreffende rasch undleicht. Sobald der Mann vorüber war, erhoben sie sich. Duaneschlich lautlos wie ein Schatten davon, und gleich darauf ver-nahm Jurgis einen dumpfen Schlag und einen halbersticktenSchrei. Er befand sich nur wenige Schritte dahinter undsprang vorwärts, um dem Manne den Mund zuzuhalten,während Duane ihn, wie verabredet, fest an den Armen ge-packt hielt. Aber der Mann war schwach und verriet eineNeigung zum Umfallen, und so brauchte Jurgis ihn nur amKragen hochzuhalten, während der andere mit flinken Fingernfeine Taschen absuchte und den Inhalt in die eigenen Taschenhinüberbeförderte. Schließlich befühlte er noch den Schlipsund die Finger des Mannes und flüsterte:„Es ist gut!"worauf sie ihn zu der Kellertreppe hinschleppten und dieStufen hinabwarfen. Dann entfernten sie sich schnellenSchrittes nach entgegengesetzten Richtungen.Duane kam zuerst nach Hause und ivar, als Jurgis ein-traf, schon mit Untersuchung der Beute beschäftigt. Da warerstens eine goldene Uhr mit Kette und Medaillon, außerdemein silberner Bleistift, eine Streichholzschachtel, eine Handvolllosen Geldes und eine Geldtasche. Diese letztere öffnete Duanein fieberhafter Hast,— sie enthielt Briefe und Schecks undschließlich in einem Fach ein Bündel Banknoten. Er zähltesie: es waren ein Zwanziger, fünf Zehner, vier Fünfer unddrei Einer. Duane atmete tief auf:„Dann ist uns geholfen!"sagte er.Nach nochmaliger Untersuchung wurde die Geldtasche mitihrem ganzen Inhalt, bis auf die Banknoten, verbrannt.Dann ging Duane mit der Uhr und den anderen Wertsachenhinunter und kehrte mit sechzehn Dollar zurück. Sie teiltensich in den Raub, und Jurgis erhielt seinen Anteil: fünfundfünfzig Dollar und etwas Kleingeld. Er erklärte, daß eszuviel sei: aber der andere hatte beschloffen, daß alles ingleiche Teile gehen sollte. Das sei ein guter Coup gewesen,sagte Duane, besser als der Durchschnitt. Als sie morgens auf-standen, wurde Jurgis ausgesandt, um eine Zeitung zukaufen; es gehörte zu den Freuden des Verbrecherlebens, seineTaten nachher beschrieben zu lesen.Die Zeitung enthielt einen spaltenlangen Bericht überden Raubanfall; es sei augenscheinlich, daß eine ganze Bandein der Gegend tätig seit, sagte der Reporter, denn dies seider dritte Fall innerhalb einer Woche, und die Polizei scheinemachtlos zu sein. Das Opfer war ein Versicherungsbeamter.Seine Wäsche war zufällig mit seinem vollen Namen ge-zeichnet gewesen, sonst würde er wohl noch nicht identifiziertworden sein. Ter Verbrecher hatte sehr heftig zugeschlagen,und der Agent hatte eine Gehirnerschütterung davongetragen:außerdem war er halb erfroren gewesen, als er gefundenwurde, so daß er vermutlich drei Finger einbüßen werde. Dadies Jurgis' erste Erfahrung war, so verursachte sie ihm einigeGewissensnöte; aber sein Gefährte lachte darüber,— dasgehörte nun einmal zum Spiel und war nicht zu ändern.„Eshandelt sich nur darum, ob wir es sind oder der andere Kerl,"sagte er,„und da sage ich doch: lieber der andere."Duane hatte Jurgis bereits auseinandergesetzt, daß einMann, der ihr Handwerk betriebe, sobald er bekannt werde,unaufhörlich arbeiten müßte, um nicht der Polizei in dieHände zu fallen. Daher sei es ratsam, daß Jurgis sich versteckthalte und sich nie mit seinem Freunde in der Oeffentlichkeitsehen lasse. Duane, der irgend etwas auf eigene Hand unter-nommen und mit der Polizei Waffenstillstand geschlossen hatte,brachte seine kleine Marie, die französische Näherin, herbeiund ließ Jurgis an ihrer Gunst teilnehmen: aber selbst dasbefriedigte diesen auf die Länge nicht, und schließlich mußteDuane Jurgis mit in die Schänken und„Sportlokale" nehmen,wo die großen Diebe und Straßenräuber verkehrten.So tat Jurgis denn einen Einblick in die erstklassige Ver-brecherwelt von Chicago. Da die Stadt sich in Wirklichkeitin den Händen einer Oligarchie von Geschäftsleuten befand.dem Namen nach aber vom Volke regiert wurde, so war einganzes Heer von Vermittlern erforderlich, um diese Macht-Übertragung ins Werk zu setzen. Zweimal jährlich,, im Herbstund Frühling,, wurden bei den Wahlen Millionen von Dollarsvon diesen Vermittlern verteilt, die aus den Taschen der Ge-schäftsleute flössen; dann wurden Versammlungen angesetztund geschickte Redner gemietet, dann gab es Musik und Feuer-werke, dann wurden Geld und Getränke in Hülle und Fülleverteilt und Zehntausende von Wahlstimmen mit barem Geldeerkauft. Und diese Heerscharen von Vermittlern mußtennatürlich das ganze Jahr hindurch erhalten werden. MeFührer und Otganisatoren wurden von den Geschäftsleutendirekt unterhalten,— Stadtverordnete und Abgeordnetemittels Bestechung, Parteibeamte aus den Wahlfonds. Agentenund Korporationsadvokaten in Form von Gehältern, Liefe-ranten durch Erteilung von Aufträgen, Führer von Äewerk-schaften durch Subsidien und Zeitungsbesitzer und Redakteuredurch Annoncen. Die große Masse dieser Leute wurde jedochentweder der Stadt aufgebürdet oder lebte direkt von der Be-völkerung selbst. Da gab es die Polizeibehörden und dieFeuer- und Wasserbehörden und die unzähligen Posten, vomgeringsten Bauernjungen bis zum Haupt einer städtischen Be-Hörde hinauf; und für die Horde, die darin kein Unterkommenfand, blieb dann immer noch die Welt des Lasters und Ver-