Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 4

4]

Sonnabend, den 5. Januar.

( Nachdrud verboten.)

Madame d'Ora.

Roman von Johannes V. Jensen.

Dora sah Evanston   blißend an, von seinen sichelförmigen Schuhen bis zu dem Zylinderhut auf dem ruppigen Kopf. Er nahm ihn ab und verbeugte sich noch einmal ziemlich zurückhaltend, ihr Blick blieb an seinen falten Augen hängen. Er war über und über grau, groß, fest und sehnig, mit hohlen Wangen und tiefen Linien, die von den Nasenlöchern in den struppigen Uncle Sam- Bart hinabliefen. Die Oberlippe war glatt rasiert und mit geradem Rand.

Verzeihen Sie meine Kühnheit, gnädige Frau," sagte er höflich und deutlich. Sie sind erstaunt, mich hier zu sehen, wohin ich nicht gehöre, aber ich habe die Erlaubnis des Kapitäns, den Fuß auf das Gebiet der ersten Kajüte zu setzen zu einem Zweck, der nicht mich selbst persönlich betrifft. Da ich nun von den Passagieren der ersten Klasse allein die Ehre hatte, Madame zu kennen

Herr Evanston  , wir freuen uns außerordentlich, Sie zu sehen," sagte Madame d'Ora   mit ihrem tiefen Organ und auf die formloseste Weise. Wie vernünftig von Ihnen, sich an mich zu wenden ich vermute ja sofort, daß Sie sich zu irgend einem wohltätigen Zweck hier heraufbegeben haben. Ihr gutes Herz sendet Sie... Das ist Herr Evanston  Edmund Hall."

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Hall erhob sich nicht. Als Evanston   den Namen hörte, trat er zur Seite und lehnte sich hintenüber, wie um ein hohes Gebäude zu betrachten.

Ah! Edmund Hall!" sagte er leise. Das ist mir allergrößte Ehre!"

Er trat noch einen Schritt zurück.

die

,, So also sieht ein weltberühmter Gelehrter aus! Ich wußte selbstredend, daß Sie mit auf diesem Schiffe feien, Herr Edmund Hall, dergleichen bleibt nicht verborgen, aber ich kannte Ihre Züge nicht. Auch wohne ich ja sehr weit von hier, ganz hinten."

Er näherte sich mit vorsichtigem Ausdruck, bog den Kopf ein wenig zur Seite:

Die Bilder scheinen mir nicht ähnlich zu sein, keins von denen, deren ich mich entsinne. Doch vielleicht... Edmund Hall sieht überanstrengt aus. Seekrankheit?"

Die letzten Worte richtete er an Madame d'Ora. Sie nickte ihm ermunternd zu. Es amüsierte sie. Aber sie fühlte sich doch ein wenig imponiert von der eiskalten Stimme des Mannes.

Ich habe mit dem größten Interesse mehrere von Ihren epochemachenden Werken gelesen oder erlebt, wenn ich mich so ausdrücken darf, namentlich Ihr eigentümliches und fesselndes Buch über die Verantwortungslosigkeit des Ver­brechers," sagte Evanston  . Und als Hall bei diesen Worten plötzlich zu ihm auffah, begegnete er feinem Blid. Sie sahen einander ziemlich lange an.

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Ja, ich teile ja Ihre Grundsätze nicht," fuhr Evanston  mit einem geschickten Anflug von Salbung fort, ich bin Geistlicher. Ich dürfte diese oder jene Grundansicht von Recht und Gesetz haben, die von den Ihren unterschiedlich ist.. Sie haben Ihr Laboratorium in New York  , Herr Edmund Hall, und es ist mir bekannt, daß Ihre Tätigkeit als Analytiker teilweise öffentlichen Charakters ist es würde mich außer­ordentlich freuen, wenn ich Sie eines Tages aufsuchen und mit Ihnen über diese großen Fragen reden dürfte. Meine ganz obskure Wirksamkeit hat mir Erfahrungen eingebracht, die auch einen Forscher wie Sie, Herr Edmund Hall, inter­essieren könnten."

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Hall nickte, und Evanston   wandte sich mit einem schiefen Blick und einer Verbeugung an Madame d'Ora.  

Madame, Sie haben recht geraten, es ist ein menschen­freundlicher Gedanke, der mich hergeführt hat."

" Lassen Sie einmal hören, Herr Evanston  . Sie sind unserer Anteilnahme sicher. Stellen Sie sich mitten davor, dann werden die Passagiere sehen, daß Sie ihre Aufmerksam­feit zu fesseln wünschen."

1907

Evanston   befolgte ruhig ihren Rat, und bald hatte er eine ganze Menge um sich versammelt.

,, Meine Damen und Herren," sagte Evanston   in Redner­ton und wartete dann, bis mehr hinzugekommen waren. Meine Damen und Herren! Unter freundlicher Protektion zweier großer Mitreisender, der Gesangsfönigin Madame d'Ora  und des berühmten Gelehrten Herrn Edmund Hall erlaube ich mir hier in der demütigen Eigenschaft eines Seelsorgers, Sie um Ihre Teilnahme zugunsten eines Liebeswerkes zu bitten. Ich bewege mich jeden Tag mit Erlaubnis des Herrn Kapitäns unter den Bassagieren auf dem Zwischen­deck, um zu helfen, wo geholfen werden kann. Man ist dort unten in der Tiefe Zeuge manch eines Anblickes, der geeignet wäre, Ihre Nerven zu erschüttern, meine geehrten Damen. Armut, Hoffnungslosigkeit und Krankheit sind dort unten keine Begriffe, es sind Handgreiflichkeiten. Der Schmerz ist reell. Wissen Sie, daß wir siebzehnhundert Seelen über das Meer führen, siebzehnhundert Arme? Sie reisen nicht, sie haben fein Hotel in Hamburg   oder in Paris   verlassen, um in eins in New York   einzukehren, sie ziehen um. Sie haben Säcke voll alten, unbrauchbaren Gerümpels mit, und glauben, daß ihr Leben davon abhängt. Sie sind un­wissend, sie befinden sich in der Finsternis, das mütterliche Schicksal hat ihre Augen nicht wachgefüßt. Wissen Sie, daß wir eine Provinz mit uns führen mit all ihren Jahr­Hunderten, wiffen Sie, daß wir eine Völkerwanderung an Bord haben, und daß die Heimatlosen müde sind und daß es sie dürstet?"

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Evanston   machte eine Pause und sah zu der Mastspitze hinauf, es lag Stimmung über seinen harten Zügen.

Meine Damen und Herren," fuhr er mehr im Ge­sprächston fort. Da ist nun ein besonderer, isolierter Fall von Glend, für den ich mir die Freiheit nehmen will, Sie zu interessieren. Im Zwischendeck reist ein junges, unbeschüttes Mädchen, dessen Lage an die Verzweiflung grenzt. Sie hat nicht einen einzigen Verwandten in Amerika  , und wenn die Ladung des Schiffes auf Ellis Island   gesichtet wird, so wird sie nicht einmal Erlaubnis erhalten, an Land zu gehen, weil sie gar nichts besitzt."

Als Evanston   zu dem Punkt fam, daß es ein junges Mädchen sei, fette Madame d'Ora   eine unverbesserliche Miene auf. Der einzige, der das sah, war Herr Evanston   selber. Aber er tat so, als sähe er es nicht.

" Das junge Mädchen heißt Fräulein Karekin, sie stammt aus Armenien   und kann eine ergreifende Tragödie von Un­recht und Grausamkeit erzählen, die ihre ganze Familie in Leichen verwandelt, ihr Heim zerstört und sie einsam und wehrlos in die Welt hinausgetrieben hat."

Diese Worte erregten großes Aufsehen unter den Passagieren. Evanston   erhob die Stimme und übertäubte ihre Ausrufe der Teilnahme und des Interesses:

Wenn dies junge Mädchen jetzt in New York   ohne Freunde und ohne Geld an Land kommt, oder wenn man sie dort zurückschickt, so wird sie in beiden Fällen eine Beute der Welt, ihrer Unbarmherzigkeit und ihrer Schande werden!"

Er erhob die Hand und schwieg unter allgemeinem Beifall der Anwesenden. Madame d'Ora  , die ebenfalls ge­rührt war, drängte sich zu Evanston   hin und bat:

Sie

des

,, Lassen Sie sie uns einmal sehen, Herr Evanston  , bringen doch das arme Mädchen hierher!"

Sie steht hier unten an der Treppe. Mit Erlaubnis Herrn Kapitäns   habe ich sie mitgebracht." Evanston   ging an die Treppe und rief hinab: Treten Sie näher, Mirjam Karekin."

Eine schmächtige, in einen Schal gehüllte Gestalt er­schien. Sie stand der Treppe gegenüber still, und ihre großen, asiatischen Augen, das einzige, was man von ihr sah, flackerten unstet. Sie war jung. Madame d'Ora   eilte auf fie zu und beugte sich über sie.

Liebes Fräulein Karekin.- Aber das ist ja ein Kind, Herr Evanston  ! Aengstigen Sie sich nicht, kommen Sie und lassen Sie sich einmal sehen. Lassen Sie mich Ihr Antlig dem Monde zuwenden Sie sind ja entzückend! Aermste, und Sie sind unglücklich!"