Nnterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 51. Mittwoch, den 13. März. 1907 8] (Nachdruck verboten.) Im für Rußlands freikeit. Der Onkel entgegnete:„Ich habe dir schon gesagt und wiederhole es nochmals: dieses Geld erhälst du nicht! Ich will nicht haben, das) man dich wie einen dummen Jungen behandelt, dem man sein Geld abnimmt und den man dann fortwirft wie eine ausgepreßte Zitrone. Du hast deine Dummheiten schon teuer genug bezahlen müssen! Es ist be- schlössen: Du bleibst vorläufig hier in meinem Hause und reist dann ins Ausland!" „Da Sie mir das Geld verweigern, haben wir nichts mehr miteinander zu sprechen. Leben Sie Wohl!" Ich hörte noch, wie mein Onkel mir nachschrie:„Du bleibst hier! Hast du verstanden?"— In ein paar Sekunden war ich auf der Straße, nahm einen Schlitten und fuhr zur Station. Dort mußte ich eine Zeit warten, bis ein bequemer Zug nach Moskau fuhr. Ich war sehr aufgeregt, denn ich fürchtete, daß mein Onkel mich suchen lassen würde. Er wußte aber ja nicht, wohin ich mich gewandt hatte, und dieser Gedanke be- ruhigte mich. In Moskau angelangt, stieg ich in einem Hotel ab, wo ich früher mit meinem Vater oder allein gewohnt hatte. Ich setzte mich mit. einem befreundeten Ingenieur in Ver- bindung, dem ich vor meiner Verhaftung zum Ankauf eines Gutes ungefähr zehntausend Rubel geliehen hatte, und bat ihn, mir, wenn nicht alles, so doch einen Teil zurückzugeben. Ich hatte ungefähr noch zweihundert Rubel in der Tasche, und nach Begleichung der Rechnung verblieben mir vielleicht noch dreißig oder vierzig Rubel! Wenn ich so weiter lebte, war es ausgeschlossen, daß ich mit deni wenigen Geld, das ich besaß, noch lange auskommen würde. Ich klingelte deshalb dem Diener, bezahlte meine Rech- nung und ließ mieine wenigen Sachen auf den Bahnhof bringen, in dessen Nähe ich mir in einem kleinen, unansehn- lichen Hotel ein billiges Zimmer mietete. Glücklicherweise traf ich an demselben Abend noch den Ingenieur, der auf mein Telegramm hin nach Moskau herübergekommen war. Er hatte mich vergebens in dem Hotel gesucht, und ich fand ihn zufällig in einem Restaurant. Er überreichte mir eine Summe Geldes, und ich erzählte ihm ganz offen, daß ich geflohen sei(von meiner Verhaftung wußte er), daß ich auf ihn in jenem teuren Hotel gewartet und gefiirchtet hatte, er würde das Geld nicht rasch genug schicken: dann wäre ich verloren gwesen. „Das nennt man allerdings Glück," sagte lächelnd der Ingenieur.„Die Restsumme, die ich Ihnen schulde, werde ich in spätestens 6 bis 8 Wochen bei einer Bank vorsichts- halber auf meinen Namen deponieren, dann brauchen Sie mir nur zu schreiben, wohin und unter welchem Namen ich Ihnen das Geld senden soll, und damit ist die Sache er- ledigt." Ich hatte eine Empfehlung und ein paar Adressen von dem Polen und Nadcschdin in der Tasche und beschloß nun. die Leute schleunigst allfzuwchen. Sie empfingen mich sehr freundlich, und als ich erwähnte, ich hätte keinen Paß, wurde mir versprochen, daß ich am nächsten Abend einen erhalten sollte. Falls mir im Hotel Schwierigkeiten wegen des Passes gemacht werden würden, könnte ich ein paar Nächte lang bei einem von ihren Bekannten leben. Ich blieb jetzt eine Zeitlang in Moskau und wohnte durch Vermittlung meiner Bekannten, ohne angemeldet zu sein, bei einem Angestellten der Eisenbahnverwaltung. Nach ein paar Tagen erhielt ich auch einen guten Paß, d. h. gut war er, weil er echt war. Wie dieser Paß beschafft wurde, davon habe ich keine Ahnung. Von nun an hieß ich Michailoff. Meine Zeit verbrachte ich meistens bei meinen Be- kannten, mit denen ich über meine weitere Tätigkeit sprach. Durch diese Unterhaltungen wurden mir alle die freiheit- lichen Bewegungen und die Richtung, zu der meine Bekannten gehörten, immer klarer und deutlicher: sie waren, wie die meisten, mit denen ich zusammenkam, ausgesprochene Marxisten und trugen sich mit dem Gedanken, der Propa- aanda unter den Arbeitern eine scharfe politische Färbung zu geben. Wir diskutierten viel, und ich vertiefte mich besonders in das Studium der sozialdemokratischen Bewegung. Als ich wieder einmal eines Abends bei meinen Be- kannten zu Besuch war. teilten sie mir mit, daß sie einen Brief von Nadeschdin erhalten hätten, worin er mich grüßen ließe. „Wissen Sie auch, daß Ihre Flucht große Bestürzung in der Stadt hervorgerufen hat? Der Jsprawnik hat, als er Verdacht schöpfte, sofort nach Archangelsk telegraphiert und war wütend, als er erfuhr, Sie feien überhaupt nicht dort gewesen. Er ließ die anderen Verbannten zu sich kommen, hielt ihnen eine große Strafpredigt und ist seit der Zeit außerordentlich streng geworden. Er sieht jede Korrespondenz durch, was er früher nicht getan hat, und macht überhaupt den Verbannten allerhand Schwierigkeiten. Nadeschdin freut sich, daß Ihnen die Flucht gelungen ist, und hofft, Sie bald zu sehen. Wie es scheint, gedenkt er mich zu fliehen." An demselben Abend sagte mir ein anderer: „Es wäre sehr gut, wenn Sie nach der Stadt Tula reisten und dort zu arbeiten anfingen. In Moskau wird es Ihnen schwer fallen, hineinzukommen, außerdem ist die Auf- ficht hier viel strenger. Tula ist eine große Fabrikstadt, wo schon einige Kameraden tätig sind. Sie könnten außer mit Ihrer persönlichen Arbeit auch noch mit Geld helfen." So reiste ich denn nach zwei Tagen von Moskau ab. In Tula angekommen, suchte ich die Leute auf, an die ich Empfehlungen hatte. Hier wußte niemand, was ich früher gewesen war, man wußte bloß, daß ich verbannt gewesen und entflohen war. So hatte ich hier nicht mit Vorurteilen zu kämpfen. Ich mietete mir ein möbliertes Zimmer, verbrachte den ganzen Tag zu Hause, arbeitete sehr viel für mich und wanderte am Abend zu meinen Bekannten, wo unser Wir- kungsplan besprochen wurde. Es gab hier schon kleine Kreise, die sich mit der Bildung der Arbeiter befaßten. Das wurde so gemacht, daß zehn bis fünfzehn Arbeiter am Abend nach getaner Arbeit zu einem der Revolutionäre gingen. Tort hielt dann einer von ihnen einen Vortrag etwa über die politische Lage im Ausland oder über die Lage der Arbeiter in Rußland und im Auslande: dann wurden Vergleiche gezogen und kurze Abschnitte aus der Nationalökonomie und Geschichte vorgetragen. Das war schon ein fortgeschrittener Kreis, und die Diskussionen, au denen sich auch die Arbeiter beteiligten, waren höchst inter- essant. Sie zeigten recht viel Verständnis und eine gesunde Auffassung der Dinge. Ich selbst mußte alsbald in diesem Kreise ein paar Vorträge über Rechtsgeschichte, russisches Recht und über den Entwurf eines neuen russischen Fabrik- gesetzes halten und war von dem Erfolg sehr befriedigt. Ein paarmal wurde ich dabei von meinen Kameraden darauf aufmerksam gemacht, daß ich den Klassenstandpunkt nicht genügend hervorhebe. Ich gab es zu, erklärte aber, ich arbeite ja selbst noch an meinen Ucberzeugungen, da sei es begreiflich, wenn ich ab und zu noch eine etwas bürgerlich- demokratische Auffassung zeige, doch das würde sich schon mit der Zeit geben. Wir machten es dann später so, daß ich jeden Vortrag, bevor ich ihn den Arbeitern vorlas, mit meinen Kameraden Punkt für Punkt durchging. Ich habe schon gesagt, daß dieser Kreis fortgeschrittener war. Es gab aber außerdem noch andere, in denen ein Revolutionär den Leuten erst Lesen und Schreiben beibrachte. Wie be» kannt, gibt es in Rußland keinen Schulzwang. Die Sonn- tagsschülen und Abendkurse müssen nach einem bestimmten, vom Ministerium für Volksaufklärung festgesetzten, spar- lichen Plane geführt werden: ein Revolutionär kann an einer solchen Schule nicht tätig sein, weil er als solcher kein gutes Leumundszeugnis erhalten würde. Aber die Sonn- tagsschulen reichen nicht aus, und die Revolutionäre kommen dem sehnlichen Verlangen der aufgeklärten Arbeiter nach, indem sie diese in geheimen Schulen weiter unterrichten.— Das ist selbstverständlich ein schweres Verbrechen und wird von der Regierung scharf bestraft. Ich ging oft zu diesen Abenden und muß sagen, daß es ein rührender Anblick war. wie da Menschen zwischen zwanzig und dreißig Jahren, nach schwerer Tagesarbeit, die Elemente lernten. Die Frau, die diesen Kreis mit Hülfe von anderen leitete, sagte mir eines Abends nach dem Unterricht:„Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schnell sie alles lernen: sie überstürzen sich und
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24 (13.3.1907) 51
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