Anterhaltungsblatl des Horwärts Nr. 52. Donnerstag, den 14. März. 1907 ö] 1 lNachdruck verbot») Im Kampf für Rußlands freikeit. Der ganze Unterricht am Abend ging selbstverständlich im geheimen vor sich, und eines Tages sagte mir die Lehrerin. Frau Kusmin , daß sie ihre geheime Abendklasse einem anderen übertragen müsse. Gegen mich ist noch kein Verdacht aufgetaucht. Ich bin professionelle Lehrerin, habe ein gutes Leumundszeugnis und kann mit Leichtigkeit eine Erlaubnis für offizielle Abend- kurse erhalten. In dieser Weise kann ich unter meinen Schülern unauffällig Umschau nach den begabtesten und zur Propaganda geeignetsten halten. Ihnen würde ich auch den Rat geben, sich um irgend eine Stellung hier in der Stadt zu bemühen, denn es könnte doch Verdacht darüber entstehen, was Sie hier tun und treiben." Da für mich in Tula nicht viel zu tun war, weil die revo- lutionäre Tätigkeit eingeschränkt werden mußte und man nur sehr langsam und vorsichtig vorgehen konnte, so beschloß ich, meine Bekannten in Moskau aufzusuchen, um zu sehen, ob ich dort nicht arbeiten könnte. Ich hatte den Plan gefaßt, mir mit einem Teil meines Geldes eine Leihbibliothek zu kaufen und in dieser Weise nach außen hin eine gesellschaft- liche Stellung zu gewinnen. Nebenbei konnte ich ja immer noch für die Revolutionäre tätig sein. Ich reiste also nach Moskau und besprach meinen Plan mit meinen Bekannten: sie billigten ihn, sagten aber, daß Moskau dazu nicht geeignet wäre, denn erstens seien die Bi° bliotheken dort viel zu teuer, und zweitens müßte ich eine ErlaubUis der Polizeibehörde haben, wobei ich doch auf Schwierigkeiten stoßen könnte. >--Gehen Sie lieber nach einer andern großen Stadt, Odessa oder Charkoff, dort können Sie Ihren Plan besser ausführen. Wissen Sie übrigens, daß Nadeschdin geflohen ist? Er ist jetzt im Kaukasus und hat seine revolutionäre Arbeit wieder aufgenommen." Das war für mich eine hocherfreuliche Nachricht. Bei meinem Aufenthalt in Moskau lernte ich einen be- deutenden Theoretiker, Abramoff, kennen, der später mein Freund wurde und mit dein ich lange Zeit zusammen arbei- tete, d. h. eigentlich nicht so sehr mit ihm, wie mit seiner Frau Anna Michailowna. Davon später. Ich reiste nun nach Charkoff, um dort eine Bibliothek hu pachten oder zu kaufen. Auch hierher hatte ich Empfeh- lungen von meinen Bekannten in Moskau erhalten. Ich ging sehr vorsichtig zu Werke und besuchte die Genossen erst spät am Abend mit allen Vorsichtsmaßregeln. Als ich ihnen auseinandersetzte, warum ich hierher gekommen wäre, wurde mir geantwortet:Sie dürfen nicht vergessen, daß Charkoff eine Universitätsstadt ist: alle Bibliotheken sind in festen Händen, Sie müßten also eine neue gründen. Warum wollen Sie aber nicht eine Druckerei errichten? Das' wäre ein vor- züglicher Plan, und wir könnten nebenbei auch Geheim- schriften dort drucken." Ich bewies ihnen aber, wie schwer es sein würde, die Konzession für eine Druckerei zu erhalten, denn ich wußte ja gar nicht, was Michailoff für ein Leumundszeugnis hatte. Es würden Nachforschungen angestellt werden, man würde von mir eine Reihe Papiere, Nachweise und dergleichen der- langen, und man könnte entdecken, daß ich gar nicht Michailoff sei. Bei einer Bibliothek dagegen sei es viel leichter. Die Leute sahen meine Bedenken ein und versprachen, sich nach etwas anderem umzusehen. Eines Abends ging ich, um mich etwas zu zerstreuen, in ein Vergnügungsetablissemcnt. In meiner Loge saß ein Herr von ungefähr vierzig Jahren mit schwarzem Haar, den ich für einen Armenier oder Juden hielt. Er war sehr elegant angezogen und von guten Manieren. Man sah. daß er gewöhnt war, viel Geld auszugeben, und sich schon lange in guter Gesellschaft bewegt hatte. Ganz zufällig kamen wir ins Gespräch, fanden aneinander Gefallen und nahmen dann auch das Abendbrot zusammen ein, aber ohne uns vor- zustellen. Auch das zeigte mir, daß der Mann an gute Gesell- chaft gewöhnt war und sich scheute, jedem zufälligen Be- 'annten seinen Namen zu nennen. 1 Das Vergnügungsetablissement lag außerhalb der Stadt, und wir fuhren in derselben Droschke zurück. Als ich meine Adresse nannte, sagte mein Begleiter: Das ist vortrefflich I Sie wohnen ja in demselben Hotel, wie ich. Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle: Oberinspektor der VersicherungsgesellschaftGegenseitigkeit" Salomonson, cand. jur." Ich nannte meinen und wieder nicht meinen Namen ebenfalls. Im Hotel angekommen, beschlossen wir, noch eine Flasche Wein zusammen zu trinken, setzten uns in den kleinen Winter- garten und plauderten über allerlei. Ich erfuhr nun, daß mein neuer Bekannter Jude war. Wie bekannt, dürfen Juden in Rußland nicht Rechtsanwälte sein, ausgenommen die, welche es schon vor dreißig Jahren, als diese Bestimmung noch nicht existierte, geworden waren. Er konnte oder wollte aber nicht ewig Gehülfe eines Rechtsanwalts bleiben und hielt es für das beste, eine gut bezahlte Stellung bei einer Versicherungsgesellschaft anzunehmen. Ferner hörte ich, daß er hier nur auf der Durchreise wäre. Er lebte sonst ständig in Odessa und mußte nur drei- bis viermal jährlich große Revisionsreisen unternehmen. Ich berichtete ihm kurz über mein Leben, d. h. über das Leben Michailoffs: so wie ich es mir zurechtgelegt hatte, und bemerkte, daß ich hier in Charkow eine passende Beschäftigung suchte, bei der ich noch freie Zeit genug behielte, um mich weiter zu bilden. Ich hoffe, Sie halten es nicht für anmaßend, wenn ich Ihnen einen Rat gebe," sagte er,Sie sind ein intelligenter, gebildeter Mensch. Warum wollen Sie nicht in eine Ver- sicherungsgesellschaft eintreten? Ich meine selbstverständlich nicht meine eigene. Sie könnten dort sehr rasch vorwärts kommen, wiirden dann eine gilt dotierte Stellung erhalten und hätten sehr viel freie Zeit." Das glaube ich kaum," antwortete ich,denn in einem Bureau muß man doch seine acht Stunden absitzen, und nach einer stumpfsinnigen Arbeit ist der Kopf so müde, daß man froh ist, wenn man noch Lust und Kraft zu einem leichten Roman oder zum Theaterbesuch hat. Das würde für mich nicht geeignet sein." Ich meinte auch nicht, daß Sie in ein Bureau eintreten sollen! Ne-m. Uebernehmcn Sie eine Agentur." Nun, die Agenturen kann man aber doch nicht wie ein Butterbrot erhalten." Das ließe sich schon machen! Wir wollen morgen mal beim Frühstück eingehender darüber sprechen. Ueberlegen Sie sichs doch einstweilen." Ich erschien am nächsten Morgen pünktlich, und nach langem Hin- und Herreden wurde ich von ihm überzeugt, daß es das vernünftigste wäre, wenn ich im Gouvernement Kursk eine Agentur für einen Bezirk übernähme. Ich müßte dann entweder in einer kleinen Kreisstadt leben oder in einem Fabrikdorf. Dieser Plan gefiel mir so gut, daß ich schon am nächsten Tage mit dem Oberinspektor abreiste. Der Agent, dessen Stelle ich einnehmen sollte, war In- spektor geworden. Er lebte unweit des großen Fabrikortes Petrowka in einem kleinen Landhause, und als wir die An» gelegenheit zu dritt besprochen hatten, sagte er: Ich halte es für besser, daß Sie meine Wohnung bei- behalten. Die Bauern und die Fabrikarbeiter, die ihre Hab» Seligkeiten und ihr Leben bei mir versichern, haben sich schon seit Jahren daran gewöhnt, hierher zu kommen. Und wissen Sie: ein altes, warmes Nest ist besser, als ein neues. Die Eisenbahnverbindung ist gut: Sie haben ja nur ein paar Kilometer bis zur nächsten Station und können �in einer Stunde in der Gouvernementsstadt sein. Wie Sie sehen, habe ich hier auch elektrisches Licht. Es ist zwar nur ein ein» faches Bauernhaus, aber mit sehr viel Bequemlichkeiten. Und da Sie noch unverheiratet sind, werden Ihnen die Räume wohl genügen." i Nun war ich Agent der Versicherungsgesellschaft«Gegen» seitigkeit" geworden und hatte alles, was mein Vorgänger besaß, übernommen. Ich brauchte mir keine eigenen Pferde halten, denn ich bekam sie stets, wenn ich sie brauchte, von einer großen Mühle in der Nähe. Im Hause war ein Tele» phon eine Seltenheit auf dem Lande und elektrisches Licht. Die Wohnung bestand aus vier geraumigen Zimmern