Hlnterhaltungsblatt des"VorwärtsNr. 66. Freitag, den 5. April. 190723](Nachdruck verboten.)Im Kampf für Rußlands freikeit.Meine Mission in Odessa war nun beendet, und ich konnteruhigen Herzens abreisen. Ich bedankte mich nochmals beiOssip und nahm von ihm Abschied.Zu Hause angekommen, beschloß ich. von der Auf-forderung Kretschmanns, ihn zu besuchen, doch Gebrauch zumachen. Es hatte sich bei ihm eine kleine Gesellschaft ein-gefunden. Ich merkte, daß er sich mir gegenüber die größteMühe gab. zuvorkommend und liebenswürdig zu sein. SeineFrau war eine sehr sympathische Dame, zart, mit weichenZügen, der gerade Gegensatz zu ihrem Manne. Als dieUnterhaltung nicht recht in Gang kommen wollte, wandtesich Frau Kretschmann an mich:„Sind Sie schon lange hier? Ach ja! Jetzt entsinne ichmich: Sie sind der junge Mann, von dem mir mein Mannerzählt hat. Sie suchen hier eine Stelle, nicht wahr? MeinMann möchte sehr gern, daß Sie hier blieben und ihmhülfen. Er schwärmt von Ihnen."„Das wundert mich," bemerkte ich,„denn Ihr Gattekennt mich doch viel zu wenig, um für mich schwärmen zukönnen."„Ja, aber er hat doch so viel von Ihnen gehört. Erweiß, daß Sie schon lange tätig sind, weiß auch, was Siealles geleistet haben. Sie haben ja sogar eine großeDruckerei gehabt. Nicht wahr?"„Meine Leistungen sind noch sehr gering," war meineAntwort,„ich interessiere mich bloß für die revolutionäreBewegung und gehöre noch keiner Partei an. Die Druckereiist ein Phantasiegebilde von irgend einem guten Freunde."„Nein, nein, seien Sie nicht so bescheiden. Ich weißalles."Es hatte mich unangenehm überrascht, daß Frau Kretsch-mann von meiner Tätigkeit Kenntnis hatte. Wer hattegeplaudert? Positives konnte ja selbst mein Freund kaumerzählt haben, aber auch die Vermutungen, die er, wie esschien, Kretschmann mitgeteilt hatte, paßten mir nicht. Beider ersten besten Gelegenheit fragte ich meinen Freund, ober Kretschmann etwas von mir erzählt habe. Mir sei dasunangenehm, weil ich nicht allein an der Arbeit beteiligt seiund Kretschmann noch viel zu wenig kenne.„Ich habe ihni auch gar nichts Besonderes mitgeteilt,"erwiderte mein Freund,„ich habe ihm bloß gesagt, Duarbeitetest sehr tüchtig. Wir nähmen beide verschiedene Stand-punkte ein, und Du trügest Dich mit dem Gedanken, einegroße Druckerei zu eröffnen. Das ist aber auch alles, undist doch um Gottes willen nichts Schlechtes."Sonderbar, dachte ich, daß Kretschmann aus diesenleichten Andeutungen sofort solche Schlüsse gezogen hat.—Der Mann gefiel mir überhaupt nicht recht.Die Gesellschaft war endlich aufgetaut. Man sprachüber die besten Methoden und Wege, die Propaganda unterden Arbeitern zu fördern. Die meisten standen, wie Kretsch-mann und mein Freund, auf dem Standpunkt, daß derArbeiter sich erst durch ökonomische Streiks organisieren sollte.Jetzt schon politische Forderungen zu stellen, würde einWahnsinn sein. Denn noch rege sich nichts in der bürger-lichcn Gesellschaft, und es sei zu gewagt, wenn ein einzigerStand— die Arbeiter— plötzlich mit politischen Forde-rungen hervorträte. Dazu sei er noch nicht mächtig genug.Ich dagegen betonte trotz des Widerspruches, daß den Ar-beitern mit einer rein ökonomischen Propaganda nicht ge-dient sei.„Gewiß gebe ich zu, daß die übrige bürgerlicheGesellschaft sich noch fast gar nicht rührt. Wir dürfen aberein Symptom nicht aus dem Auge lassen: das ist dieStudentenbewegung. Sie können wir durch Agitation zueiner politischen machen und mit der Arbeiterbewegung ver-schmelzen. Uebrigens wird sie auch ohne unser Zutun überkurz oder lang von selbst aus den engen akademischenGrenzen durch die Regierung hinausgedrängt werdew undauf das politische Gebiet übergehen, und die Maßregeln gegendie Studenten werden uns neue Agitatoren bringen. Borallem aber ist es notwendig, daß wir die Arbeiter über ihreRechtlosigkeit, über den politischen Druck und die Notwendig-keit, Wandel zu schaffen, aufklären. Was nützen uns alle dieökonomischen Streiks und die Vorlesungen über die ökono-mische Lage der Arbeiter in Westeuropa, wenn wir die Ar-beiter nicht aufklären, wie wichtig, wie notwendig diepolitische Freiheit dazu ist?— Uebrigens, warum ereifereich mich? Die Geschichte wird schon lehren, daß ich rechthabe, denn glaubt mir, Kameraden, die Arbeiter werden ausihrer Mitte selbst politische Agitatoren hervorbringen, dieuns.über den Kopf wachsen, und Ihr werdet hinter der Be«wegung zurückbleiben."„Erlauben Sie," erwiderte Kretschmann,„Sie befindensich im Irrtum, wenn Sie meinen, daß wir uns bloß mitder ökonomischen Aufklärung der Arbeiter befassen. Selbst-verständlich sprechen wir oft davon und beweisen ihnen anTatsachen, wie nötig die politische Freiheit ist. Sie sind aberoffenbar einer der Optimisten, die glauben, daß die politischeFreiheit des russischen Volkes schon bald kommen werde. In-dessen die Geschichte macht keine Sprünge, und wir müssenwarten, bis die Zeit gekommen ist. Doch hält uns das nichtab, genau dasselbe, was Sie fordern, zu treiben, nur daß wirdas noch nicht so in den Vordergrund stellen. Ich möchteIhnen einen Vorschlag machen: bleiben Sie hier. Ich habeIhnen schon angeboten, Ihnen eine Stelle zu verschaffen.Hier ist ein großes Wirkungsfeld, und eine Kraft wie Siebrauchen wir. Ihr Feuer und Ihre Energie werden hierbesser wirken, als wenn Sie von Ort zu Ort wandern, wieSie es jetzt tun."„Ich reise gar nicht von Ort zu Ort," antwortete ichgereizt.„Ich wohne schon seit langem in einer und derselbenStadt und habe dort auch meine Tätigkeit."„Daß Sie tätig sind, bezweifelte ich nicht," sagteKretschmann.„Ich wußte nur nicht, daß Sie einen ständigenWohnort haben. Es wäre ja von großem Interesse für uns,wenn Sie uns erzählten, wie Sie und Ihre Kameradendort die Propaganda und die Agitation treiben." Ich lehntedas für diesen Abend ab, versprach aber, demnächst in einexder Arbeiterversammlungen darüber zu reden.Auf dem Rückwege fragte mich mein Freund:„Washast Du eigentlich gegen Kretschmann? Du bist zu miß-trauisch gegen ihn. Ich habe Dich noch nie so geheimnisvollund mißtrauisch gesehen! Er ist ein tüchtiger Arbeiter, hathier sehr viel geleistet, und Du hast keinen Grund, an ihmzu zweifeln."„Das tue ich auch gar nicht," erwiderte ich.„Ich kenneaber den Menschen noch nicht gut genug und werde doch nichtdem ersten besten Sachen erzählen, an denen ich nicht alleinbeteiligt bin."An einem der nächsten Tage traf ich eine kürzlich an-gekommene alte Bekannte, eine Freundin Andreeffs. Siewar sehr erstaunt, mich hier allein zu finden. Wir sprachenüber dieses und jenes und kamen auch auf Kretschmann.„Was haben Sie für einen Eindruck von ihm?" fragte michFrau Sophie.„Er scheint ein ganz tüchtiger Arbeiter zu sein," ant-wortete ich,„aber großes Vertrauen habe ich nicht zu ihm.Ich weiß nicht warum."„Haben Sie schon etwas von ihm gehört?" fragte sieweiter.„Ich erinnere mich dunkel, daß Petroff früher einmalvon einem Manne gesprochen hat, der in Odessa tätig sei,und den man im Verdacht habe, in Polizeidiensten zu stehen.Ob es nun Kretschmann ist oder jemand anders, bei Gott!—das weiß ich nicht."'*„Ich habe auch ein Mißtrauen, und ein mehr� be-grllndetes, gegen ihn," sagte Sophie.„Er hat schon zweimaleine sonderbare Rolle gespielt.— Obwohl Sie mir gegen-über Geheimnisse hegen und mir nicht gesagt haben, warumSie hier sind, will ich Ihnen doch sagen, warum ich hier bin.Sie haben gehört, daß vor vier Monaten viele Verhaftungenvorgenommen worden sind. Unter anderen sind auch meineSchwester und ihr Mann verhaftet worden. Ich habe erstvor kurzem Nachricht erhalten, daß sie im Gefängnis sitzen,Und bin hierher geeilt, um eine Unterredung mit ihnen zuerwirken. Vielleicht gelingt es mir. Vorläufig habe ichaber»twas sehr Interessantes erfahren! Bei der Verhaftungmeit.cr Schwester spielt nämlich Kretschmann eine Rolle.