Nnterhallungsblatt des'Dorivärts Nr. 67. Sonnabend, den 6. April. 1O07 24](Nachdruck verboten.) Im Kampf für Rußlands freikeit. Die Studentin hatte keinen Grund, Kretschmann gegen- über mißtrauisch zu sein, und fuhr am Abend mit Kretschmann in die Wohnung, wo die Sachen versteckt waren. Er soll dann geäußert haben, ein paar Tage könnten die Sachen noch ganz ruhig dort liegen, er werde schon ein sicheres Versteck finden, wohin wir sie dann bringen könnten.— In derselben Nacht aber wurden die Studentin und die Besitzerin der Wohnung, wo die Sachen aufbewahrt waren, verhaftet!— Ist das nicht sonderbar?" „Das ist allerdings merkwürdig. Nur verstehe ich dann das Vertrauen nicht, das ihm unsere sonst so vorsichtigen Freunde entgegenbringen," entgegnete ich. „Wenn Kretschmann zur Geheimpolizei gehört, was wir ja noch nicht genau wissen," sagte Sophie,„so ist er ein äußerst gefährlicher Agent provocateur, denn er hat eine sehr gute Bildung, redet glänzend und treibt eine außer- ordentlich geschickte Propaganda unter den Arbeitern: das blendet unsere Freunde, denn wir rechnen ja meistens mit ganz einfachen, ungebildeten Geheimpolizisten." Ich war sehr aufgeregt über das Gehörte und beschloß, am nächsten Tage Odessa zu verlassen, nachdem ich Sophie gebeten hatte, mir über Kretschmann weitere Mitteilungen zukommen zu lassen. In Belaja Zerkov angekommen, verkaufte ich nach und nach meine Sachen und erklärte meinen Freunden, daß ich eine Stelle im Moskauschen Semstwo erhalten hätte und bald übersiedeln müsse. Ich konnte aber doch nicht früher als nach zehn Tagen abreisen. Auf dem Wege zu Anna Michailowna und Abramoff besuchte ich einen Bekannten, der mir als Deckadresse diente. Bei ihm lag schon ein Brief von Sophie. Sie war mit Mühe und Not einer Verhaftung entgangen. Gleich nach meiner Abreise aus Odessa war der ganze Kreis, mit Kretschmann an der Spitze, verhaftet worden. Nach ein paar Tagen war dieser wieder in Freiheit gesetzt worden. Nun war kein Zweifel mehr, daß er ein Agent provocateur war und mein Mißtrauen sich rechtfertigte. Solche Leute mit guter Schulbildung, die sogar die Ar- beiterfrage in Westeuropa genau studiert hatten, trifft man oft als Agent provocateur: sie kommen in eine Stadt und suchen Verbindungen mit Revolutionären anzuknüpfen, oder sie gründen auch unter dem Schutze der Polizei einen ge- Heimen Arbeiterverein, halten dort Vorträge und treiben scheinbar eifrig Propaganda. Sehr bald finden sich Rc- volutionäre ein, die auch Anteil an der Arbeit nehmen, und eines schönen Tages ist der Verein verhaftet,— der Gründer wird bald wieder freigelassen und nimmt seine schändliche Tätigkeit wieder auf. Anna Michailowna und Abramoff hatten sich in einer Stadt niedergelassen, in der sehr schnell eine Industrie auf- geblüht war. Mehrere große Fabriken waren dort errichtet worden, mit Tausenden von Arbeiterin Alles trug schon das Gepräge einer Fabrikstadt. Anna Michailowna übte ihre Praxis als Hebamme aus und hatte viel Zuspruch. Abramoff arbeitete an Artikeln, die in einer Zeitschrift erscheinen sollten. Sie behandelten die theoretischen Grundlagen unserer geheimen Arbeit und mußten, wie alle Artikel in Rußland , die die Politik streiften oder soziologische Probleme berührten, so geschrieben werden, daß das meiste zwischen den Zeilen.herausgelesen werden mußte. Gleich nach meiner Ankunft sagte Anna Michailowna zu mir: „Vorläufig läßt sich's hier gut arbeiten. Polizei ist nicht viel da, und Spione gibt es, glaube ich, gar nicht. Wie steht es mit Ihren Finanzen? Können Sie ohne Beschästi- gung auskommen? Denn bloß zum Schein irgend eine Stelle bekleiden, brauchen Sie hier nicht. Sie können auch so ungehindert leben!" Ich erklärte ihr, daß, trotzdem ich doch nebenbei verdient und ziemlich sparsam gewirtschaftct hätte, mein kleines Kapital stark zusammengeschmolzen sei und ich mich nach einem Verdienst umsehen müsse. Darauf meinte sie: „Arbeiten Sie vorläufig mit Abramoff zusammen. Er hat eben den Auftrag erhalten, ein englisches Werk ins Russische zu übersetzen: das können Sie beide zusammen machen, und der Verdienst ist nicht schlecht." Ich hatte mich ganz in der Nähe meiner Freunde ein- logiert und erhielt von Abramoff zur Probe ein paar Druck- bogen zum Uebersetzen. Mein Freund war zufrieden, und nun machte ich mich mit großem Eifer an die Arbeit. Unser. kleiner Kreis hatte noch an Andreeffs Bruder ein neues Mit- glied erhalten. Wir waren also fünf Menschen, das Ehe- paar Abramoff, Andreeff, sein Bruder und ich. Der Verdienst von Anna Michailowna war nicht be- sonders groß, das Honorar für die Ucbersctzung und andere Arbeiten erhielt Abramoff nicht regelmäßig, und da Andreeff nichts verdiente, so stellte ich mein bares Geld unserer Kolonie zur Verfügung. Wir lebten ganz kommunistisch: Mittag- und Abendbrot aßen wir zusammen, und es gab Zeiten, wo auch Wäsche, Stiefeln und Kleidung gemeinsames Gut wurden. Nach dem Abendessen wurden lange theoretische Ge- spräche geführt, wie wir uns hier am besten betätigen könnten, Wir hatten unter den Arbeitern schon Anhänger gefunden, und es war nur eine Frage der Zeit, wann wir geheime Vorträge halten könnten. Wir waren ungefähr drei Monate hier. Andreeff und sein Bruder hatten Stellungen als Zeichner in einer Maschinenfabrik erhalten Durch unsere Freunde unter den Arbeitern bekamen wir Nachricht, daß in ihrem Kreise Un- zufriedenheit herrschte. Jetzt hieß es also für uns, aus- zuhalten, denn unsere Hülse und unsere Arbeit konnte bei einem ausbrechenden Streik von großem Nutzen sein. Fast jeden Abend wurden wir von Arbeitern aufgesucht und um Rat gefragt. Eines Tages hörten wir, daß der Arbeiter Maximoff angekommen sei und eine Anstellung in der Maschinenfabrik, wo Andreeff und sein Bruder beschäftigt waren, erhalten habe. Maximoff hatte vor vier Wochen einen großen Streik in der Stadt Alexandrowsk geleitet. Er war ein tüchtiger Agitator und sehr beliebt unter seinen Käme- raden. Hier hatte er auch frühere Bekonnte gefunden und sofort Fühlung mit den übrigen Arbeitern genommen. Die Unzufriedenheit unter den Arbeitern wuchs. Wir waren in ständiger Verbindung mit den Führern und er- fuhren von ihnen, daß es Maximoff gelungen sei, eine Streik- kasse zu begründen.„Jetzt geht es bald los!" sagte Anna Michailowna.„Wahrscheinlich wird Maximoff auch uns schr bald um Hülfe bitten." Wir hatten ihn bisher nicht gesehen: vorsichtshalber hatte er uns noch nicht aufgesucht. Wir waren aber über die Forde- rnngen der Arbeiter orientiert, hatten auch schon einen Auf- ruf verfaßt. Eines Abends endlich erschien Maximofs in Begleitung eines Bekannten zu einer Beratung. Er und seine Kameraden hatten so vorsichtig gehandelt, daß die Fabrikverwaltungen noch keine Ahnung von dem bevor- stehenden Streik hatten. Sie wußten, daß Unzufriedenheit unter den Arbeitern herrschte, hielten sie aber nicht für ge- fährlich. Auf Maximoffs und Anna Michailownas Vorschlag wurde beschlossen, während des Streiks bei uns eine kleine Druckerei einzurichten. Ich reiste sofort mit einer Empfehlung zu einem Freunde Maxnuoffs, um das Nötige zu beschaffen. Dies gelang mir aber nicht, da die Stadt, wo Maximofss Freund wohnte, von Geheimpolizisten geradezu wimmelte. Wir mußten uns daher mit hcttographischer Vervielfältigung der Aufrufe begnügen. Der Streik brach ganz plötzlich aus. Die zwei großen Fabriken standen still. In der Nacht hatten wir noch un- unterbrochen Aufrufe gedruckt. Dir Forderungen der Ar- beitcr waren sehr kurz formuliert: Bessere Behandlung, Er- höhung des Lohnes. Kürzung der Arbeitszeit, die obligatori- schen Ueberstunde.i sollten fortfallen oder besser bezahlt werden. Die ärztliche Hülse mußte besser und bequemer organisiert und genügende Vorsichtsmaßregeln zur Verhütung von Unglücksfällen getroffen werden. Andreeff und ich eilten am nächsten Morgen, nach ge- taner Arbeit, hinaus auf die Straße, um zu sehen, wie die
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24 (6.4.1907) 67
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