Anterhaltungsblatt des Vorwärts Nr. 73. Dienstag, den 16� April. 1907 30](Nachdruck verboten.) Im Krampf für Rußlands   freikeit. Leontjeff wußte, daß wir von der Polizei gesucht wurden, er fragte uns aber nicht, was wir verbrochen hätten; es ge- nügte ihm vollkommen, zu wissen, daß wirpolitische Ver- brecher" waren. Ich würde Ihnen nicht empfehlen, den ganzen Tag in Ihrer Behausung zu sitzen," sagte er.Bleiben Sie doch nach dem Essen bei uns, da haben Sie Gesellschaft und zerstreuen sich ein wenig. Niemand wundert sich, bei uns Gäste an- zutreffen, und irgend einen Namen werden wir schon finden, unter dem wir Sie vorstellen können." Voraussichtlich mußten wir die Gastfreundschaft Leon- tjeffs mehrere Wochen in Anspruch nehmen. Wir mußten Antwort von der Dame, die nach Charkoff gefahren war, abwarten und in Verbindung mit jemand an der Grenze treten, um mit Hülfe der dortigen Organisation ins Aus- ' land zu kommen. Ich führte auch eine rege Korrespondenz. um uns Geld für die Flucht und für die erste Zeit im Aus- lande zu verschaffen. Ich kam sogar auf den törichten Ge- danken, mich an meinen Onkel zu wenden, ließ ihn aber sofort wieder fallen. Wir verebten auf dem Gute eine herrliche Zeit, fuhren oft spazieren, um die Felder zu besehen, machten auch Svazier- ritte und unterhielten uns mit dem Hausherrn und der Hausfrau über allerhand Dinge, meistens Philosophie und Literatur. Am Abend wurde viel musiziert oder auch vor- gelesen. Nachbarn kamen zu Besuch, und wir verkehrten ganz zwanglos mit ihnen. Nur Abramoff litt an manchen Tagen furchtbar an melancholischen Zuständen. Dann ver- brachte er den ganzen Tag im Bette, und ich sorgte für das Esien, versuchte aber nicht, ihn zu zerstreuen, denn dann wurde er mürrisch und grob. Leontjeff und seine Frau verstanden seinen Zustand durchaus. Sie wußten, daß seine Frau im Gefängnis saß, und bemühten sich in zarter, liebenswürdiger Weise, seinen Schmerz zu lindern. Ueber drei Wochen waren vergangen, als wir den Besuch unseres Bekannten, des Stationsgehülfen, erhielten. Er brachte uns bedrohliche Meldungen aus Charkoff und riet uns zu schleuniger Flucht. Die Nachricht von Anna Michailowna war beruhigend. Sie fiihlte sich wohl und bat uns, ihretwegen nicht länger in Rußland   zu bleiben, sondern zu fliehen. Wir hatten aber noch keine Nachricht von unserem Freunde aus dem Westen und konnten nicht so aufs- Geratewohl nach der Grenze hin- reisen, denn mangels Verbindungen würde es schwer sein, ohne Paß ins Ausland zu kommen. Der Zustand Abramoffs verschlimmerte sich aber von Tag zu Tag. Ich versuchte alles mögliche, um ihn zu zer- streuen. Auf langen Spaziergängen brachte ich die Unter- Haltung auf die weitere EntWickelung der revolutionären Arbeit in Rußland  , und da er mir ziemlich gleichgültige Ant- Worten gab, sprach ich davon, wie unrationell die Landwirt- schaft in diesem Teile unseres Vaterlandes betrieben wiirdc. Noch vor kurzem standen hier große Wälder, jetzt ist alles ausgerodet, bloß kleine Waldstreifen sind übrig geblieben. Dank der Naubwirtschaft' ist der Boden nicht mehr ertrags- fähig, und am meisten hat der Bauer darunter zu leiden." Ich hoffte, ihn dadurch auf sein Lieblingsthema zu bringen, auf die Propagierung der sozialdemokratischen Lehre unter den Bauern, aber auch das versagte. Er war für die übrige Welt wie abgestorben. Unsere Wirtsleute be- mühten sich auch in jeder Weise, ihn aufzumuntern, er zog sich aber immer mehr zurück und erklärte mir eines Tages, er habe überhaupt keine Lust, wieder zu unseren Wirten zu gehen, Peter könne ihm etwas zu essen bringen. Ich ließ ihn ruhig gewähren. Aber vergebens wartete ich täglich auf eine Nachricht und hatte schon beschlossen, daß. wenn sie in einer Woche nicht einträfe, wir auf gut Glück versuchen wollten, über die Grenze zu kommen. Ich schrieb in diesem Sinne an den Gehülfen deS Stationschefs. Durch ihn ging unsere ganze Korre- spondenz. Abramoff begann schon an Halluzinationen des GehörS zu leiden� oft wurde ich in der Nacht von ihm geweckt: Hören Sie? Hören Sie? Es kommt jemand gefahren. Hören Sie die Schellen?" Ich kleidete mich dann an, lauschte, vernahm aber nichts.Das ist unmöglich, zuerst müßten die Gendarmen doch zu unserem Wirt hinfahren, und er hätte uns sicherlich durch Kolja rechtzeitig benachrichtigt," beruhigte ich ihn.Ich habe es aber ganz deutlich gehört," antwortete er.Ich habe ein gutes Gehör." Ich ging dann mit ihm hinaus, und wir wanderten den Weg bis zu einer Anhöhe, von wo aus man den Gutshof sehen konnte. Die Straße lag still da, nichts regte sich. Er beruhigte sich, und wir kehrten zurück. Ost geschah es, daß er mich in einer Nacht ein paar- mal weckte, und jedesmal erwies es sich als eine Halluzination. Meine Nerven fingen auch schon an, überreizt zu werden, denn unter dem Eindruck des erschreckten Flüsterns von Abramoff hörte auch ich Geräusche. Wir müssen fliehen, so geht es nicht weiter, wir werden sonst beide noch wahnsinnig," sagte ich. Da erhielten wir kurz vor Ablauf der Frist, die ich mir gesetzt hatte, ein Telegramm: wir konnten reisen. Abramoff wurde ruhiger, ja fast lustig. Beim Abschied von unseren lieben Gastgebern dankte ich ihnen für die große Gastfreund- schaft, die sie uns gewährt hatten. Der brave Gutsbesitzer erwiderte:Wenn Sie wieder einmal hierher zurück müssen, so kehren Sie wieder bei uns ein. Wenn Sie Geld brauchen, bitte, schreiben Sie, ich werde mein möglichstes tun. Ihnen zu helfen. Uebrigens haben Sie auch genügend Geld zur Reise? Ich könnte Ihnen doch etwas geben, obwohl die Ernte bald anfängt und ich die Arbeiter bezahlen muß, etwas aber ließe sich schon entbehren." Dankend erklärte ich ihm, ich würde mich nur im äußersten Falle an ihn wenden, vorläufig brauchten wir nichts. Kurz vor der Abreise musterte ich erst Abramoff, ob er anständig genug aussähe, und bat auch Leontjeff, ihn zu kontrollieren. Alles war in Ordnung. Ein schöner Wagen mit ein paar kräftigen Pferden stand vor der Tür, wir stiegen ein, und in schnellem Galopp ging es zur Station. Wir schauten uns noch einmal um, schwenkten die Tücher, dann verschwand der Gutshof hinter einer Anhöhe. Gegen Mitternacht waren wir in Jaroslawl  . Unser Be- kanntcr erwartete uns schon. Der Zug ging in anderthalb Stunden. Bis dahin traten wir in sein Bureau, wo er uns eine Reihe von Briefen und eine gute Adresse übergab, an die wir uns vorläufig wenden sollten. Wir erhielten ein Coupe für uns und fuhren mit allem Komfort bis Moskau  . Während der Fahrt wurde Abramoff wieder der alte, er konnte wieder scherzen und lachen und sagte:Gott   sei Dank, daß wir die Gefahr hinter uns haben! Sie dürfen nicht vergessen, daß ich zwei und ein halbes Jahr im Gefängnis in Einzelhaft verbracht habe. Eine abermalige Arretierung, ein auch nur kurzer Aufenthalt im Gefängnis würden mich wahnsinnig machen! Ich kann das Eingesperrt- sein nicht mehr ertragen! Das ganze Milieu würde mein schon zerrüttetes Nervensystem vollkommen untergraben." Ich hörte zum erstenmal, daß er schon früher arretiert gewesen war. Wir kannten unser Vorleben überhaupt nur ganz flüchtig. Ich war noch junger Student," erzählte er,und wir hattem einen kleinen Kreis, der sich mit politischen und öko- nomischen Fragen beschäftigte, eS war Selbstbildungs­zweck. Durch ein Mißverständnis wurden wir arretiert, unser harmloser Kreis wurde als Geheimbund von Verschwörern betrachtet, ich saß ungefähr sieben Monate in Untersuchungs- hast, wurde dann in Freiheit gesetzt und erhielt nach einem halben Jahr das Urteil: zwei Jahre Einzelhaft." Was machten Sie denn da?" fragte ich. Im Untersuchungsgefängnis ging es so zu wie immer. Die erste Zeit erhielt ich keine Bücher, später durfte ich lesen. Es war erträglich. Im Petersburger Gefängnis, wo ich die Einzelhast abbüßen mußte, war eS schlimmer, aber man ge- wöhnt sich an alles. Da mußte ich um sieben Uhr aufftehen und um Halbacht anfangen zu arbeiten. Ich mußte jeden Tag eine bestimmte Anzahl von Zigarettenkästchen herstellen. Wenn ich damit fertig war, was anfangs den ganzen Tag in Anspruch nahm, mir aber später doch mehr freie Zeit ließ,