(Nachdruck ondotcn.)89 Verloren.Eine Leidensgeschichte aus dem Volke.Von Robert Schweichs l.Eine Viertelstunde später etwa bahnte sich ein jungerMensch einen Weg durch die Gaffer an der Tür, und trat inden Garten, wo er sich an dem Tische niederließ, an demvorher der Amtsrichter gesessen hatte. Es war ein Maurervon der Brücke unten..Er trM noch das gelbe lederneSchurzfell. Ein blauer Rock reichte ihm bis weit über dieKnie hinab und der steife Hut saß ihm etwas schief auf demrechten Ohr. Rock und Hut hatten schon manche Unbill desWetters erfahren. Der Hut hatte zudem an der einen Seiteeine Beule. Der neue Ankömmling mochte wohl seine sechsFuß messen. Er war hager, aber kräftig gebaut� ein Bursche,den man hätte hübsch nennen können, wenn nicht etwasFinsteres in seinen Zügen und seinen dunkeln Augen gelegenhätte. Auffallend an ihm als einem Maurer war ein kleinesschwarzes Bärtchen, das seine Oberlippe zierte. Gesicht undHände waren sauber, als ob er gar nicht von der Arbeit käme.Er hatte Staub und Kalk zuvor in dem Bergwasser abge-waschen. /Langsam und schweigend war er zwischen denWeibern und Kindern an der Gartenpforte hindurch-geschritten, und aus einer kurzen Pfeife rauchend, saß er jetztan dem Tische und wartete geduldig, bis man nach seinemBegehren fragen würde, während seine düster u schwarzenAugen das Trinkgelage überflogen. Niemand fragte nachseinem Wunsch; aber schon kam Marie und setzte einen vollenKrug vor ihn hin mit dem üblichen Wunsch:„Wohl be»komm's!" Sie sagte es leise und verschüchtert, wie es ihreArt war, allein es klang nicht so eintönig, wie vorher zuden anderen Gästen. Uä>er das wettergebräunte Gesicht desGesellen glitt es wie ein helles Licht und er beantwortetedes Mädchens Wunsch mit einem warmen:„Dank schönstens!"Dabei sah er Marie fest in die großen nußbraunen Augen.Sie lehnte seinen Dank mit einem„O!" ab, in dem sicheinige Verwirrung verriet. Auch strich sie die Kreuzer, mitdenen er das Bier bezahlte, in die hohle Hand, ohne auf-zublicken.Der Geselle legte seine Pfeife beiseite, holte Brot undKäse hervor, die in ein Papier gewickelt waren, nahm seinTaschenmesser zur Hand und begann zu essen.Marie wünschte guten Appetit und verließ ihn und denGarten.Der Appetit fehlt nicht, wenn man so schwer gearbeitethat, wie Gottlieb Nehring. Er aß und trank langsam undbedächtig, wie es die Gewohnheit der Handwerker ist. Dabeiverdüsterten sich seine Mienen allmählich wieder. Nein, siewurden finsterer als zuvor, während er dem Treiben der Stu-denten unter dem Apfelbauni zusah. Er verwandte kein Augevon dort und als er nach beendeter Mahlzeit das Papier mitder Käserinde zusammenballte und wegwarf, geschah es miteinem Nachdruck, als ob in seiner Seele ein Zorn wühlte.Dann rauchte er wieder und der narkotische Duft schien besänf-tigend auf ihn zu wirken.Die Fröhlichkeit des Gelages war inzwischen immerlauter geworden, das Band der Einheit zerrissen. Währendhier der Amtsrichter einem kleinen Kreise Auserwählterlustige Fahrten seiner Zeit berichtete, von Paukereien undKonimersen auf dem Markt, von Bauernhochzeiten, wo dieLustbarkeit ein Ende mit Schemelbeinen nahm, von ingrim-migen Nachtwächtern und übertölpelten Pedellen, vonMaskenzügen und Spritzfahrten, sangen andere die verschie-densten Lieder in den verschiedensten Tonarten um die Wette.Dort an der Tischecke saß ein Paar in der innigsten Um-armung und vertraute einander in geheimnisvollen Andeu-tungen den wonnemondlichen Zustand ihrer Seelen. An-gehende Mediziner sprachen mit weisen Mienen von ihremHandwerk. Andere taten mit Regine schön und sie tat schönmit ihnen, zwei Philosophen schrien gegeneinander undfochten mit den Händen dazu, ohne aufeinander zu hören undPipin, der ruhmreiche Redner, kämpfte gegen einen altenBurschen mit vollem Bart und langem Haar, der unter mäch-tigen Wolken aus seiner buntbetroddelten Pfeife das Kunst-schöne verteidigte. Es war ein betäubendes Durcheinandervon Lachen, Singen, Schreien, und aus dem Tale wallten dieAbendnebel leise herauf und um die Ruinen der Rothenburgüber dem Walde begannen die Purpurgluten der hinweg»sinkenden Sonne ihr feierlich stilles Leuchten. Die Blätter-kröne des Apfelbaumes rauschte lauter im kühlen Abendwind.Das Fäßchen war leer. Der Amtsrichter vertauschte dieStudentenkappe mit seinem Hute. Er mahnte zum Aufbruch.Man rief nach dem Wirt und Marie, um die Zeche zu be-zahlen.„Schon alles in Ordnung, meine Herren," bemerkte derWirt, während Marie aus dem Hause geeilt kam. Ter Amts-richter hatte alles auf seine Rechnung genommen.Der Schrumm war ein famoser Bursche. Ein drei-maliges Hoch für Schrumm! Die Dorfkinder, welche all-mählich ihre Scheu vor dem Engelwirt überwunden und inden Garten eingedrungen waren, mischten ihre feinenStimmchen in das Hoch. Dann ging es, von der Dorfjugendüberschwärmt, nach Altenbach hinunter. Der Amtsrichter,welcher links und rechts die beiden ältesten Burschen unter-gefaßt hatte, voran.„Adieu, schöne Marie," sagte Pipin und reichte demMädchen die Hand.„Sie bekommen eine Mark, wenn Siemir einen Kuß geben."Der Verteidiger des Kunstschönen, den sie Sambanannten, hörte es und rief 5„Küsse kauft man nicht, dieraubt man."Er umschlang das Mädchen, sie riß sich los und sprangzurück. Er folgte ihr und umfaßte sie von neuem. Siesträubte sich. Schon beugte er seinen Mund zu dem ihrigen,da fühlt er ihre Hand in der unsanftesten Berührung an seinerrechten Wange. Es klatschte prächtig. Samba ließ die Kleinebetroffen fahren. Sie stand ihm wie verwandelt gegenüber.Ihre Wangen glühten und aus ihren Augen schössen zornigeFlammen. Doch die Bestürzung Sambos war von keinerlangen Dauer.„Auf einen Schlag gehört erst recht ein Kuß," rief er undwollte auf Marie zueilen.Eine Hand hielt ihn an der Schulter zurück. Es warder Maurergesell Gottlieb Nehring.„Was fällt Ihnen ein?" brauste Samba auf und suchtesich loszureißen. Aber der Gesell hatte eine feste Hand.„Lassen Sie das Mädchen in Frieden. Herr Student,"sagte Gottlieb mit einem ruhigen Nachdruck.Die große kräftige Gestalt des jungen Handwerkers, seineben nicht freundlicher Blick, mit dem er auf den Studentenherabsah, ließen es den letzteren doch nicht rätlich erscheinen,mit einem solchen Gegner anzubinden. Murrend bückte ersich nach seiner Mütze, die ihm vom Kopfe gefallen war, undeilte davon.Marie hielt die Schürze vor das Gesicht und weinte.«Grämen Sie sich doch nicht so," sagte Gottlieb und faßteihre Hand.„Es war wohl so bös nicht von ihm gemeint."„Was sie nur von einem armen Mädchen denken,"schluchzte Marie.Aus der Dorfgasse herauf klang es:„Freiheit, die ichmeine usw."Der Amtsrichter sang mit und Vers auf Vers, Stropheauf Strophe tönte fern und ferner herauf und verhallte.Marie und Gottlieb standen die ganze Zeit über Handin Hand. Sie hatte ihre Tränen getrocknet.„Ich muß jetzt nur aufräumen," sagte sie, als der Gesangverstummt war, und zog ihre Hand leise aus der seinigenzurück.„Es eilt doch nicht," bat er.Sie schaute mit einem ungewissen Blick zu ihm auf.Er war verlegen, wie er das Gespräch weiter fortführensollte. Es war das erste Mal. daß er mit dem Mädchen einWort wechselte. Endlich sagte er:„Ich meine, Sie habenauch keinen leichten Dienst hier."Sie schüttelte den Kopf.„Haben Sie keine Bekanntschaft oder Verwandtschaft inAltenbach?"„Ich habe niemand auf der ganzen Welt," sagte sie soleise, daß er es kaum verstehen konnte.Da wurde sie von Reginen gerufen, und die Stimme klanggar scharf und schrill.Marie erschrak bei dem Ton.„Ach Gott," flüsterte siehastig,„nun werde ich wieder ausgezankt, daß ich hier müßigstehe. Gute Nacht!" Sie eilte dem Hause zu.„Armes Ding!" murmelte der Maurer in sich hinein.„So ganz allein auf der Welt!" Er drückte den Hut tiefer indie Stirn und schritt langsam zum Garten hinaus. Als er andem Hause vorüberkam, hörte er auf dem Flur Reainens