Mnterhaltlmgsblatt des Horwärls Nr. 124. Sonnabend, den 29. Juni. 1307 (Nachdruck verVoten.) Die 8pit2in. Von Marie von Ebner-Eschenbach  . Zigeuner   waren gekommen und hatten ihr Lager beim Kirchhof außerhalb des Dorfes aufgeschlagen. Die Weiber und Kinder trieben sich bettelnd in der Umgebung herum, die Männer verrichteten allerlei Flickarbeit an Ketten und Kesseln und bekamen die Erlaubnis, so lange da zu bleiben, als sie Beschäftigung finden konnten und einen kleineu Verdienst. Diese Frist war noch nicht um, eines Sommermorgens aber fand man die Stätte, an der die Zigeuner gehaust hatten, leer. Sie waren fortgezogen in ihren mit zerfetzten Plachcn überdeckten, von jämmerlichen Mähren   geschleppten Leiterwagen. Von dem Aufbruch der Leute hatte niemand etwas gehört noch gesehen; er mußte des Nachts in aller Stille stattgefunden haben. Die Bäuerinnen zählten ihr Geflügel, die Bauern hielten Umschau in den Scheunen und den Ställen. Jeder meinte, die Landstreicher hätten sich etwas von seinem Gute angeeignet und dann die Flucht ergriffen. Bald aber zeigte sich, daß die Verdächtigen nicht nur nichts entwendet, sondern sogar etwas dagelassen hatten. Im hohen Grase neben der Kirchhofmauer lag ein splitternacktes Knäblein und schlief. Es konnte kaum zwei Jahre alt sein und hatte eine sehr weiße Haut und spärliche hellblonde Haare. Die Witwe Wagner, die es entdeckte, als sie auf ihren Rübenacker ging, sagte gleich, das sei ein Kind, das die Zigeuner, Gott   weiß wann, Gott   weiß wo, gestohlen und jetzt weggelegt hatten, weil es elend und erbärmlich war und ihnen niemals nützlich werden konnte. Sie hob das Bübchen vom Boden auf, drehte und wendete es, und erklärte, es müsse gewiß irgendwo ein Merkmal haben, an dem seine Eltern, die ohne Zweifel in Qual und Herzensangst nach ihm suchten, es erkennen würden,wenn man das Merkmal in die Zeitung setze". Doch ließ sich kein besonderes Merkmal entdecken und auch später, trotz aller Nachforschungen, Anzeigen und Kund- machungen weder von den Zigeuern noch von der Herkunft des Kindes eine Spur finden. Die alte Wagnerin hatte es zu sich genommen und ihre Armut mit ihm geteilt, nicht nur aus Gutmütigkeit, sondern auch in der stillen Hoffnung, daß seine Eltern einmal kommen würden in Glanz und Herrlichkeit, es abholen und ihr hundertfach zu ersetzen, was sie für das Kindlcin getan hatte. Aber sie starb nach mehreren Jahren, ohne den erwarteten Lohn eingeheimst zu haben, und jetzt wußte niemand, wohin mit ihrer Hinterlassenschaft dem Findling. Ein Armen- haus gab es im Dorfe nicht, und die Barmherzigkeit war bort auch nicht zu Hause. Wen um Gottes willen ging das halbverhungerte Geschöpf etwas an, von dem man nicht ein- mal wußte, ob es getauft war?Einen christlichen Namen darf man ihm durchaus nicht geben," hatte der Küster von Anfang an, unter allgemeiner Zustimmung, erklärt; aber auf die Frage der Wagnerin:Was denn für einen?" keine Antwort gewußt.Geben's ihm halt einen provisorischen," war die Entscheidung gewesen, die endlich der Herr Lehrer getroffen, und die halb taube Alte hatte nur die zwei ersten Silben verstanden und den Jungen Prodi und nach seinem Fundorte: Kirchhof genannt. Nach ihrem Tode waren alle darüber einig, daß dem Prodi.Kirchhof nichts Besseres zu wünschen sei, als eine recht baldige Erlösung von feinem jämmerlichen Dasein. Der Armselige lebte vom Abhub, kleidete sich in Fetzen abgelegtes Zeug, ob von kleinen Jungen, ob von kleinen Mädchen, galt gleich ging bar häuptig und barfüßig, wurde gepriigelt, beschimpft, ver­achtet und gehaßt, und prügelte, beschimpfte, verachtete und haßte wieder. Als für ihn die Zeit kam, die Schule zu be suchen, erhielt er dort zu den zwei schönen Namen, die er schon hatte, einen dritten:der Abschaum", und tat, was in seinen Kräften lag, um ihn zu rechtfertigen. Da war im Orte die brave Schoberwirtin, Im der gangenen Herbst hatte Prodi in einem Winkel ihrer Scheuer eine Todeskrankheit durchgemacht, ohne Arzt und ohne 1 Pflege. Nur die Schoberin war täglich nachsehen gekommen, ob es nicht schon vorbei sei mit ihm und hatte ihm jeder« , Morgen ein Krüglein voll Milch hingestellt. Die Gewöhn». heit, ihm ein Frühstück zu spenden, behielt sie bei, auch nach» dem er gesund geworden war. Pünktlich um fünf fand er sich ein, blieb auf der Schwelle der Wirtsstube stehen und rief:Mei Müatch!" Er bekam das Verlangte und ging seiner Wege. Einmal aber ereignete sich etwas ganz Un- gewöhnliches. Der Wirt, der sonst seinen Abendrausch regel- mäßig im Bette ausschlief, hatte ihn diese Nacht arif dev Bank in der Wirtsstube ausgeschlafen und erwachte im Augen- blick, in dem Prodi auf die Schwelle trat und rief:Mei Müalchl" Was sagte der Lackel? Was wollte er? Schober dehnte und reckte sich. Ein verflucht kantiges Lager hatte er ge» habt, seine Glieder schmerzten ihn, und seine Laune war schlecht. Der grobe Klotz Prodi fand heute an ihm einen groben Keil.Nicht zu verlangen, zu bitten hast, Du Lump.| Kannst nicht bitten?" Der Junge riß die farblosen Augen auf, sein schmales Gesicht wurde noch länger als sonst, der große, blasse Mund verzog sich und sprach:Na!" Die Früchte, die ihm dieses Wort eintragen sollte, reiften sogleich. Schober sprang auf ihn zu. verabreichte ihm sein Frühstück in Gestalt einer tüchtigen Tracht Prügel und warf ihn zur Tür hinaus. Solche kleinen Zwischen» fälle machten aber keinen Eindruck auf den Jungen. Wie alltäglich fand er sich am nächsten Morgen wieder ein und forderte in gewohnter Weiseseine" Milch. Die Wirtin gah sie ihm, aber eine gute Lehre dazu: Du mußt bitten lernen, Bub, weißt? bitten. Bist schon alt genug, bist g'wiß ja, wenn man bei Dir nur was g'wiß wüßt! g'wiß schon vierzehn. Also merk Dir, von morgen an: Wenn's kein Bitten gibt, gibt's keine Milch." Sie blieb dabei, ob es ihr auch schwer wurde. Wie schwer, sah Prodi wohl, und es war ihm ein Genuß, eine Befriedigung seiner Lumpeneitelkeit. Ihm, dem Aus» gestoßenen, dem Namenlosen, war Macht gegeben, der reichsten Frau im ganzen Orte Stunden zu trüben und die Laune zu verderben. Sie blickte ihm mit Bekümmernis nach, wenn er ohne Gruß an ihrer Tür vorüberging, zur Arbeit in den Steinbruch. Dort taglöhnerte er jetzt beim Wegemacher, der ihn in Kost genommen und ihm ein Obdach im Ziegenstall gegeben hatte. Der Wegemacher brauchte nicht, wie die anderen Leute, den Umgang mit Prodi für seine. Kinder zu fücchtem Die fünf Wegemacherbuben konnte der Auswürfling nichts Böses lehren, sie wußten ohnehin schon alles und waren be» sonders Meister in der Tierquälerei. Die Ziegen, Kaninchen, die Hühner, die ihnen Untertan waren, und der Haushund, die unglückliche Spitzin, gaben Zeugnis, ihre Narben er- zählten davon und ihre beschädigten Beine und ihre ge- brochenen Flügel. Prodi fand sein Ergötzen an dem Anblick der Roheit, den er jetzt stündlich genießen konnte. Er fing für die kleineren der Buben Vögel ein und gab sie ihnen zum Spielen" und dann konnten sie von Glück sagen, wenn sie kein allzu zähes Leben hatten. Das ärmste von den armen Tieren der Wegemacher- familie war aber die alte Spitzin. Sie lief nur noch auf drei Beinen und hatte nur noch ein Auge. Ein Fußtritt des Erstgeborenen unter ihren Peinigern hatte sie krumm, ein Steinwurf sie halb blind gemacht. Trotz dieser Defekte trug sie ihr impertinentes Näschen hoch und ihr Schwänzchen aufrecht, bellte jeden fremden Hund, der sich blicken ließ, wütend an, und ihre Beschimpfungen gellten ihm auf seinem Rückzüge nach. Die Söhne des Wegemachers fürchtete, ihn selbst haßte sie. weil er ihr ihre kaum geborenen Jungen immer wegnahm und, bis auf ein einziges, in den See warf. Zur Zeit, in der Prodi beim Wegemachcr Steine klopfte und Sand siebte, bekam die Spitzin noch im Greisenaltcr abernials Junge, ihrer vier, von denen drei gleich ins Wasser mußten. Sie konnte kauni eines mehr ernähren, sie war zu alt und zu schwach, und es sah ganz danach aus, als ob sie nicht mehr lang leben sollte. Das Geschäft des Er- säufens übertnrg der Vater an jenem Tage seinem Aeltestei«. dem Anton, und dem machte etwas, das einem anderen Ge»