Anterhaltungsblatt des vorwärtsNr. 131.Mittwoch, den 10 Juli.1907(Nachdruck verboteo.»?!Vie Mutter.Roman bon Maxim Gorli. Deutsch von Adolf Hetz.Als Natascha sich in der Küche ankleidete, sagte dieMutter zu ihr:„Ihre Strümpfe sind für diese Jahreszeit zu dünn!Wenn Sie erlauben, stricke ich Ihnen ein Paar wollene."„Danke schön, Pelagea Nilowna. Die wollenen kratzensol" erwiderte Natascha lachend.„Ich stricke Ihnen welche, die nicht krätzenl" sagte FrauWlassow.Natascha sah sie an und kniff dabei die Augen ein wenigzusammen. Dieser unverwandte Blick machte die Mutterverwirrt.„Entschuldigen Sie schon meine Dummheit,,, ichmeine es aufrichtig!" setzte sie leise hinzu.„Was sind Sie für eine herrliche Frau!" erwiderteNatascha ebenfalls halblaut und drückte ihr schnell die Hand.„Gute Nacht, Mütterlein!" sagte der Kleinrusse, ihr indie Augen blickend, bückte sich und trat hinter Natascha in denFlur.Die Mutter schaute nach ihrem Sohn— der stand nebender Tür im Zimmer und lächelte.„Was lachst Du?" fragte sie verwirrt,„Nur so... Ich freue mich!"„Gewiß, ich bin alt und dumm.,, aber was SchönesVerstehe ich auch noch!" meinte sie leicht gekränkt.„Das ist herrlich!" erwiderte er, mit dem Kopf nickend.„Du solltest zu Bett gehen, es ist Zeit..."„Für Dich auch... Ich gehe sofort zu Bett."Sie machte sich am Tisch zu schaffen, räumte das Geschirrab, war zufrieden und schwitzte sogar infolge angenehmer Errcgung— kurz, sie war vergnügt, daß alles so schön gewesenwar und so friedlich geendet hatte.„Das hast Du fein gemacht, Pawluscha!" sagte sie.„Sindnette Leute... Der Kleinrusse ist sehr lieb, und das Fräulein... Ach, wie ist die klug! Was ist sie eigentlich?"„Lehrerin!" erwiderte Pawel kurz, im Zimmer auf- undabschreitend.„Ach so! deshalb ist sie so arm!.-, so schlecht gekleidet... ach, so schlecht! Da kann man sich schon balderkälten! Wo wohnen ihre Eltern?..."„In Moskau," sagte Pawel, blieb vor der Mutter stehenund fügte ernst und halblaut hinzu:„Sieh— ihr Bater ist ein reicher Mann, handelt mitEisen, hat mehrere Häuser. Weil sie aber diesen Weg be-treten hat, hat er sie verstoßen... Sie ist in warmer Be-haglichkeit erzogen, man hat ihr alles gegeben, was sie habenwollte... Und jetzt geht sie sieben Werst mitten in derNacht allein..."Die Mutter war überrascht. Sie stand mitten imZimmer, bewegte erstaunt die Brauen hin und her und blickteschweigend auf ihren Sohn. Dann fragte sie leise:„Geht sie in die Stadt?"„-�n.„O weh! Und hat sie keine Angst?"„Denk Dir mal— die hat keine Ängst!" erwiderte Pawellächelnd.„Aber warum,.. Sie könnte doch hier über Nachtbleiben... bei mir schlafen!"„Das geht nicht! Vielleicht wird sie morgen früh hiergesehen, und das ist für uns nicht gerade angenehm und fürsie auch nicht."Die Mutter überlegte, blickte nachdenklich durch dasFenster und fragte leise:„Ich verstehe nicht, Pawel, was denn hierbei gefährlichund verboten ist? Ihr tut doch nichts Schlimmes?"Sie war ihrer Sache nicht sicher und wollte von demSohne eine bestätigende Antwort hören. Er blickte ihr ruhigin die Augen und erklärte ihr fest:„Wir tun nichts Schlimmes und werden nichts Schlimmestun. trotzdem winkt uns allen in der Ferne das Gefängnis.Das laß Dir gesagt sein..."Ihre Hände zitterten, mit brechender Stimme meinte sie:„Vielleicht gibt Gott... daß es noch gut abläuft?..."„Nein!" sagte der Sohn freundlich aber bestimmt.„Ichkann Dich nicht betrügen, es läuft nicht gut ab."Er lächelte.„Geh zu Bett, Du bist müde. Gute. Nacht!"Als sie allein war, trat sie zum Fenster, blieb davor stehenund blickte auf die Straße. Vor dem Fenster war es kaltund trübe. Der Wind hatte sich aufgemacht, wehte den Schneevon den Dächern der kleinen schlafenden Häuser, schlug gegendie Wand, flüsterte geschwind etwas vor sich hin, fiel auf dieErde und trieb weiße Wolken trockener Schneeflocken dieStraße entlang...„Jesus Christus, erbarme Dich pnser!" flüsterte dieMutter leise.Aus ihrem Herzen stieg immer neues Weh empor, undgleich einem Nachtschmetterling huschte und zitterte in ihrdie Vorahnung des Kummers, üder den ihr Sohn so ruhigund sicher sprach. Vor ihren Augen lag die weite schnee-bedeckte Ebene. Kalt, mit feinem Pfeifen fegte der Windweich und zottig darüber hin. Mitten in der Ebene schreitetschwankend eine kleine, schlanke Mädchengestalt einsam vor»wärts. Der Wind verwickelt sich in ihren Beinen, bläht ihreRöcke auf und wirft ihr stechende Schneekörner ins Gesicht.Es ist schwer zu gehen, die kleinen Beine versinken im Schnee.Ist kalt und schrecklich. Das Mädchen beugt sich vornüberund gleicht mitten in der weiten, trüben Ebene einem Gras-Halm im scharfen Spiel des Herbstwindes. Rechts von ihrsteht der Sumpf wie eine dunkle Wand; dort zittern undsäuseln wehmütig zarte nackte Birken und Espen. Weit inder Ferne blinzeln trübe die Lichter der Stadt...„Herrgott— erbarm Dich unser!" flüsterte die Mutterwieder, vor Kälte und Furcht zitternd.VII.Die Tage glitten einer nach dem anderen dahin, wiePerlen an einem Rosenkranz, und reihten sich zu Wochenund Monaten aneinander. Jeden Sonnabend kamen dieFreunde zu Pawel, und jede Versammlung glich einer Stufeauf einer langen schrägen Leiter, die irgendwo in die Ferneführte und die Menschen langsam in die Höhe brachte. IhrEnde war nicht abzusehen.Es erschienen immer neue Leute. Es wurde e�ng undschwül in Wlassows kleinem Zimmer. Natascha kam ver-froren und müde an, war aber stets unerschöpflich lustig undlebhaft. Die Mutter strickte ihr Strümpfe und zog sie selbstüber die kleinen Füße. Natascha lachte zuerst, dann aberschwieg sie plötzlich, dachte nach und sagte leise:„Ich hatte eine Kinderfrau... die war auch wunder»bar gut! Wie sonderbar, Pelagea Nilowna, die Arbeiterführen ein so schweres Leben voller Kränkungen, und dochtrifft man bei ihnen mehr Herz und mehr Güte als— beidenen da!"Sie bewegte die Hand und deutete irgendwo hin. weit,weit in die Ferne.„Sehen Sie mall" meinte Frau Wlassow.„Sie habendie Eltern verlassen und alles..." Sie wußte ihre Ge-danken nicht zu Ende zu bringen, seufzte und schwieg, indemsie Natascha ins Gesicht blickte und aus irgend einem GrundeDankbarkeit gegen sie empfand. Sie saß auf dem Fußbodenvor ihr, das Mädchen aber hatte den Kopf gesenkt und lächeltenachdenklich.„Die Eltern verlassen?" wiederholte sie.„Das ist nichtso schlimm! Mein Vater war ein dummer, roher Mensch....Der Bruder ebenfalls... und ein Trinker. Die ältereSchwester, ein unglückliches, klägliches Ding, heiratete einenMann, der viel älter war als sie, sehr reich, verdrießlich undhabgierig.... Aber um die Mutter tut es mir leid! Dieist gerade so einfach wie Sie, so klein wie eine Maus, liefebenso schnell und hatte immer Angst. Bisweilen möchte ichsie so gern sehen, die Mutter!"„Sie armes Ding!" meinte die Mutter und schütteltetraurig den Kopf.Das Mädchen warf schnell den Kopf hoch und strecktedie Hand aus, als stieß sie etwas von sich fort-