AnterhaltungsSlatt des Nr. 132. Donnerstag, den 11. Juli. 1V07 (Nachdruck verboten.) «1 Die IVIiitter. Roman von Maxim Gorki  . Deutsch von Adolf Heß. In allem entdeckte Nikolei einen Betrug, einen Wirrwarr. eine Duinmheit, bisweilen auch Lächerlichkeit und stets etwas, was den Menschen offenbar schadete. Der Mutter kam es so vor, als ob er irgendwo aus weiter Ferne, aus einem an- deren Reich gekommen sei, wo alle Menschen ein einfaches, rechtschaffenes, leicht zu ertragendes Leben führten, während ihm hier alles fremd war, er sich nicht an dieses Leben ge- wohnen, es nicht als etwas Notwendiges betrachten konnte! es gefiel ihm nun einmal nicht, und erweckte stets den ruhigen aber hartnäckigen Wunsch in ihm. alles nach seiner Art umzu- ändern. Sein Gesicht war gelblich, um die Augen liefen feine, strahlenförmige Runzeln, seine Stimme war leise, und die Hände stets warm. Wenn er Frau Wlassow   begrüßte, um- schloß er ihre ganze Hand mit seinen langen, festen Fingern, und nach einem solchen Händedruck wurde einem leichter und ruhiger ums Herz. Es erschienen auch andere Leute aus der Stadt, am häufigsten ein hohes, schlankes, junges Mädchen, mit über- mäßig großen Augen im mageren, blassen Gesicht. Sie wurde Sascha genannt. In ihrem Gang und ihren Bewegungen lag etwas Männliches: sie runzelte ärgerlich die dichten, dunklen Brauen, und wenn sie sprach, zitterten die feinen Flügel ihrer geraden Nase. Sascha sagte zuerst eines Tages laut und scharf: Wir Sozialisten.. Als die Mutter dieses Wort hörte, starrte sie erschreckt und schweigend auf das Gesicht des Fräuleins. Die aber hatte die Augen halb geschlossen und sagte streng und ge- bieterisch: Wir müssen unsere ganze Kraft daran setzen, das Leben neu zu gestalten... Die Mutter wußte, daß Sozialisten den Zaren getötet hatten. Das war in ihrer Jugend gewesen; damals hatte man erzählt, Gutsbesitzer, die sich an dem Zaren dafür rächen wollten, daß er die Bauern freigegeben, hätten geschworen, sich solange nicht das Haar zu scheren, bis sie ihn getötet hätten: dafür seien sie Sozialisten genannt. Und jetzt konnte sie näht begreifen, warum ihr Sohn und seine Freunde Sozialisten seien. Als alle fort waren, fragte sie Pawel: Pawluscha, bist Du Sozialist?" Ja," sagte er und stand gerade und fest wie immer vor ihr.Was soll das?" Die Mutter seufzte schwer und fragte mit gesenktem Blick: Ist das wirklich wahr, Pawluscha? Sie sind doch gegen den Zaren.... Sie haben ja einen getötet!" Pawel ging im Zimmer auf und ab, strich mit der Hand über die Wangen   und sagte lächelnd: Das haben wir nicht nötig!" Dann sprach er lange mit seiner stillen, ernsten Stimme zu ihr. Sie blickte ihm ins Gesicht und dachte: Er tut nichts Schlechtes... Kann es nicht!' Aber dann kam das schreckliche Wort immer häufiger bor, seine Schärfe nutzte sich ab, und es wurde ihrem Ohr eben- falls vertraut, wie Dutzende anderer ihr unverständlicher Worte. Sascha aber gefiel ihr nicht. Wenn sie erschien, empfand die Mutter ein unruhiges, ungemütliches Gefühl. Eines Tages sagte sie zum Kleinrussen, unwillkürlich die Lippen zusammenpressend: Tie Sascha ist doch sehr streng! Sie kommandiert immer Ihr sollt dies tun und das...." Der Klcinrusse lachte laut auf: Das stimmt mal wieder, Mütterlein, Ihr habt den Nagel auf den Kopf getroffen! Pawel, habe ich recht?" Dabei blinzelte er der Mutter zu und sagte mit lächelnden Augen: Das feine Wesen kratzt man selbst mit einem Messer nicht vom Menschen herunter!" Pawel meinte trocken: Sie ist ein gutes Mädchen," und machte ein finsteres Gesicht. Auch das stimmt," bestätigte der Kleinrusse,aber sie begreift nicht, daß s i e das, was sie tut, tun muß, wir da- gegen es wollen und können!" Sie stritten über etwas, was die Mutter nicht verstand. Sie hatte auch bem-rkt, daß Sascha am strengsten gegen Pawel war, ihn bisweilen sogar anschrie. Pawel lächelte, schwieg und blickte ebenso milde in das Gesicht des Mädchens, wie er früher Natascha angesehen. Das gefiel der Mutter ebenfalls nicht. Es kamen immer mehr Leute. Man versammelte sich zweimal wöchentlich, und wenn die Mutter sah, mit welch ge- spannter Aufmerksamkeit die Jugend den Reden ihres Sohnes und des Kleinrussen, den interessanten Erzählungen Saschas, Nataschas, Nikolai Jwanowitschs und der anderen Leute aus der Stadt zuhörte, vergaß sie ihre Unruhe und schüttelte traurig den Kopf, wenn sie an die öden Tage ihrer Jugend zurückdachte. Manchmal überraschte die Mutter ein plötzlicher Ausbruch heller, stürmischer Freude bei ihnen. Das war gewöhnlich an den Abenden der Fall, wo sie in der Zeitung von auslän- dischen Arbeitern lasen. Dann glänzten die Augen aller in lebhafter, mrckigcr Freude. Alle wurdeto sonderbar chach Kinderart glücklich, lachten fröhlich und hell und klopften sich freundschaftlich auf die Schultern. Brave Burschen, die deutschen Genossen!" schrie jemand wie berauscht von seiner Fröhlichkeit. Und die Genossen in Italien   hoch!" schrie man ein anderes Mal. Und indem sie diese Ausrufe Freunden in der Ferne zu- schickten, die sie nicht kannten und deren Sprache sie nicht verstanden, waren sie anscheinend fest davon überzeugt, daß die ihnen unbekannten Leute sie hörten und ihre Begeisterung verständen. Der Kleinrusse sprach nnt blitzenden Augen, erfüllt von einem Gefühl alles umschließender Liebe: Es wäre schön, ihnen einmal zu schreiben, Genossen, waS meint Ihr? Damit sie erfahren, daß im fernen Rußland  Freunde von ihnen leben, Arbeiter, die dieselbe Religion wie sie haben und bekennen, daß hier Genossen leben, die das- selbe Ziel verfolgen und sich über ihre Siege freuen." Und alle sprachen lange mit verklärten Mienen über Franzosen, Engländer und Schweden  , über die Arbeiter aller Länder als ihre Freunde, dem Herzen nahestehende Menschen, die sie niemals gesehen hatten und doch liebten und verehrten, deren Freuden und Kummer sie teilten. In dem engen Zimmer wuchs ein riesengroßes, unfaß- bares Gefühl geistiger Verwandtschaft aller Arbeiter der ganzen Welt ihrer Herren und Sklaven, die der Ge­danke aus der Gefangenschaft der Vorurteile schon befreit hatte, und die sich als Beherrscher des Lebens fühlten. Dieses Gefühl vereinte alle zu einem Wesen, es erregte sogar die Mutter, und obgleich sie es nicht kannte, fühlte sie sich dennoch durch dieses starke, freudige, triumphierende, junge, berau- schende, freundliche, hoffnungsvolle Gefühl aufgerichtet. Was seid Ihr für Menschen!" sagte sie einmal zu dem Kleinrussen.Alle sind Eure Genossen Armenier, Juden und Oesterrcicher. Von allen sprecht Ihr wie von Euren Freunden, allen ist Kummer und Freude gemeinsam." Ja, allen, Mütterlein!" rief der Kleinrusse.Die Welt  ist unser. Die Welt gehört den Arbeitern! Für uns gibt es keine Nationen, keine Stämme, es gibt nur Genossen und Feinde. Alle Arbeiter sind unsere Genossen, alle Reichen, alle Negierungen unsere Feinde. Wenn Du die Erde wohl- wollend betrachtest, wenn Du siehst, wieviel wir Arbeiter sind, und wieviel Geisteskraft wir verkörpern, ergreift unsägliche Freude, unsägliches Glück da?. Herz, und ein großes Fest triumphiert in Deiner Seele. Und ebenso, Mutter, fühlt der Franzose und der Deutsche  , wenn sie das Leben ansehen, und ebenso freut sich der Italiener  . Wir sind alle Kinder einer Mutter des großen, unbesiegbaren Gedankens von der Brüderschaft der arbeitenden Bevölkerung aller Länder. Dieser Gedanke wächst, er erwärmt uns wie eine Sonne, er ist die zweite Sonne am Himmel der Gerechtigkeit, und dieser Himmel ü-.>; kl....