Anterhalwngsblatt des vorwärtsNr. 140.Dienstag, den 23� Juli.1907(Nachdruck verboten.)16]Die JVIuttcr.Roman von Maxim Gorki. Deutsch von Adolf Hetz.-XIII.Wie Hagelkörner auf Eisenblech prasselten abgerisseneAusrufe und Schimpfworte hernieder. Pawel sah von obenauf die Leute herunter und suchte mit weit geöffneten Augenjemand unter ihnen.„Deputierte!"„Ssisow soll reden!".„Wlassow!"„Rybinl Der hat Haare auf den Zähnen!"Endlich wurden zur Rücksprache mit dem Direktor drei:Ssisow. Rybin und Pawel gewählt, und man wollte sie schonabschicken, als plötzlich halblaute Rufe in der Menge erklangen:„Er kommt selbst!..."„Der Direktor!,.„Ah ha?"Der Haufe wich auseinander und machte einem großenhageren Manne mit Spitzbart und langem Gesicht Platz.„Erlauben Sie!" sagte er, und entfernte die im Wegestehenden Arbeiter mit einer kurzen Handbewegung, ohne siezu berühren. Seine Augen blinzelten, mit dem Blick eineserfahrenen Menschenbeherrschers betastete er forschend die Ge-, sichter der Arbeiter. Man nahm die Mütze vor ihm ab, der-beugte sich vor ihm. Er schritt, ohne�auf die Grüße zu ant-Worten, vorwärts, und verbreitete Stille und Verwirrung,befangenes Lächeln und halblaute Ausrufe, in denen manschon die Reue von Kindern verspürte, die eingesehen haben,daß sie ungezogen gewesen sind.Jetzt ging er an der Mutter vorüber, streifte ihr Gesichtmit einem strengen Blick und blieb vor dem Eisenhaufenstehen. Von oben reichte ihm jemand die Hand.— Er nahmsie nicht, kletterte gewandt mit einem starken Schwünge hinauf,stellte sich vor Pawel und Ssisow auf und fragte:„Was ist das für eine Versammlung? Warum habt Ihrdie Arbeit niedergelegt?"Ein paar Sekunden herrschte Stille. Die Köpfe derLeute schwankten wie Nehren hin und her. Ssisow schwenkteseine Mütze in der Luft, zuckte die Achseln und senkte denKopf.„Ich frage: warum habt Ihr die Arbeit niedergelegt?/'schrie der Direktor.Pawel stellte sich neben ihn und sagte mit lauter Stimmeauf Ssisow und Rybin deutend:„Wir drei sind von unseren Kollegen bevollmächtigt, zuverlangen, daß Sie Ihre Anordnung über den Abzug voneiner Kopeke aufheben."„Warum?" fragte der Direktor, ohne Pawel anzusehen.„Wir halten eine solche Steuer für ungerecht!" sagtePawel laut.„Sehen Sie denn in meiner Absicht, den Sumpf trockenzu legen, nur den Wunsch, die Arbeiter auszubeuten, und nichtdie Sorge, ihre Lage zu verbessern?. Ja?"„Ja!" erwiderte Pawel.„Sie auch?" fragte der Direktor Rybin.„Alle zusammen!" antwortete Rybin.„Und Sie auch, Verehrtester?" wandte sich der Direktoran Ssisow.„Ja, ich bitte auch: laßt uns schon die Kopeke."- Ssisow senkte wieder den Kopf und lächelte schuldig.�Der Direktor überflog die Menge langsam mit seinenAugen und zuckte die Achseln. Dann sah er Pawel forschendan und meinte:„Sie scheinen ein ziemlich intelligenter Mann zu sein—begreifen denn auch Sie wirklich nicht den Nutzen der Maß-regel?"Pawel erwiderte laut:„Wenn die Fabrik den Sumpf auf ihre Kosten trocknenlegt, so wird das allen verständlich!"„Die Fabrik beschäftigt sich nicht mit philantropischenMaßregeln!" bemerkte der Direktor trocken.„Ich befehle allen,unverzüglich an die Arbeit zu gehen!Und er begann herabzusteigen, indem er vorsichtig mitdem Fuß das Eisen berührte und niemanden anblickte.In der Menge ertönte unzufriedener Lärm..„Was ist los?" fragte der Direktor stehenbleibend.Alle verstummten, nur aus der Ferne ertönte eine der«einzelte Stimme:„Sollst selbst arbeiten!"...„Wenn Ihr nicht binnen fünfzehn Minuten die Arbeitwieder aufnehmt, lasse ich allen Strafe anschreiben!" erwiderteder Direktor trocken und eindringlich.Er schritt wieder durch die Menge, aber jetzt erhob sichhinter ihm dumpfes Murren, und je tiefer feine Gestalt inder Menge versank, um so lauter wurde das Geschrei.„Der läßt nicht mit sich reden!"„Das nennt sich nun Recht! Ei, dieser Jammer..Man wandte sich Pawel zu und schrie:„He, Gesetzmacher, was sollen wir jetzt anfangen?"„Hast in einem fort geredet— dann kommt der Direktorund macht alles zunichte!"„Nun, Wlassow, was wird jetzt?"Als das Geschrei hartnäckiger wurde, eklärte Pawel:„Genossen, ich schlage vor, die Arbeit so lange nieder�zulegen, bis er auf die Kopeke verzichtet..."Erregte Worte schwirrten durch die Luft„Hältst Du uns für dumm?"„Das müssen wir machen!"„Streik?"„Wegen der Kopeke?"„Was denn? Schön, streiken wir!"„Dafür geht es allen an den Kragen..."„Wer wird denn arbeiten?"„Werden sich schon Leute finden!"„Du denkst an Streikbrecher?"„Ich muß jeden Monat drei Rubel sechzig Kopeken an dieMücken abgeben..."„Das müssen alle!"XIII.Pawel stieg herunter und trat neben seine Mutter.Ringsum summte alles, man stritt mit einander und schrieerregt.„Den Streik bringst Du nicht zustande!" sagte Rybin, zuPawel tretend.„Wenn die Leute auch gierig auf die Kopekesind, so sind sie doch alle feige. Dreihundert treten vielleichtauf Deine Seite, mehr nicht. Den Haufen Mist kriegst Dunicht auf eine Gabel..."Pawel schwieg. Vor ihm schwankte das ungeheureschwarze Gesicht der Menge hin und her und blickte ihm ver-langend in die Augen. Sein Herz klopfte unruhig. Es schienWlassow, daß alle seine Worte spurlos wie spärliche Regen»tropfen auf einem von langer Hitze getrockneten Boden in derMenge verschwänden. Einer nach dem anderen kamen dieArbeiter zu ihm, belobten seine Rede und drückten ihrenZweifel über den Erfolg des Streikes aus, klagten überMangel an Verständnis für die eigenen Interessen und ihreMacht.Er ging traurig und müde nach Hause. Hinter ihmfolgten seine Mutter und Ssisow, und neben ihm schritt Rybinund summte ihm ins Ohr:„Du hast gut gesprochen, aber nicht zum Herzen. Ja,Du mußt ins Herz, mitten ins Herz den Funken werfen. Mitdem Verstände fängst Du die Leute nicht, der Schuh paßtihnen nicht— ist zu eng und schmal! Sie ziehen ihn nichtan, und wenn sie es tun— treten sie ihn sofort schief, ja-wohl."Ssisow sagte zur Mutter:„Für uns Alte ist es Zeit auf den Kirchhof, Nilowna.Da wächst ein neues Geschlecht heran... Wie haben wirgelebt? Sind auf den Knien gerutscht und haben uns bis zurErde verbeugt. Jetzt aber sind die Menschen entweder kluggeworden— oder sie irren sich noch mehr als wir... jeden-falls sind sie uns nicht ähnlich. Die jungen Leute zum Bei-spiel sprechen mit dem Direktor wie mit ihresgleichen, ja...Ach, wenn doch mein Mattwej lebte! Auf Wiedersehen, PawelMichailow... Du trittst brav für die Leute ein. Gebe Gott.daß Du irgend einen Ausweg findest.,» Das gebe Gott!"