Anterhaltungsblatt des Horwärts Nr. 144. Sonnabend, den 27. Juli. 1907 (Nachdruck verboten.) 203 Die JVIutter. Noman von Maxim Gorki  . Deutsch von Adolf Hetz. Haben Sie wirklich acht Tage lang nichts gegessen?" fragte die Mutter erstaunt. Das mußte ich doch, damit er sich bei mir entschuldigte!" erwiderte das Mädchen, die Achseln zuckend. Ihre Ruhe und Hartnäckigkeit machten auf die Mutter den Eindruck eines Vorwurfs... So!" dachte sie und fragte dann wieder: Wenn Sie nun aber gestorben wären?" «Was ist dabei zu machen!" antwortete das Mädchen leise.Er hat sich doch entschuldigt. Man darf sich keine Kränkungen gefallen lassen..." Ja a..." erwiderte die Mutter gedehnt.«Unser- eins wird sein ganzes Leben lang gekränkt..." Ich habe abgeladen!" erklärte Jegor die Tür öffnend. Der Samowar fertig? Erlauben Sie, ich hole ihn..." Er hob den Samowar auf, brachte ihn herein und sagte: Mein seliger Vater hat für seine Person höchst eigen- händig mindestens zwanzig Glas Tee täglich getrunken, wes- wegen er auch dreiundsicbzig Jahre friedlich und ohne Krank- heit in dieser Welt zugebracht hat. Er wog acht Pud und war Küster im Dorfe Woskressenski..." Was sagen Sie, Sie sind Vater Iwans Sohn?" rief die Mutter. In eigener Person! Aber woher wissen Sie selbiges?" Ich bin ja auch von Woskressenski!"... Also sind wir Landsleute! Aus welcher Familie sind sie?" Von Ihren Nachbarsleuten! Ich heiße Seregina." Des lahmen Nils Tochter? Die Person ist mir nicht unbekannt. Hat mich manch liebes Mal am Ohr gezaust.. Sie standen einander gegenüber, überschütteten sich mit Fragen und lachten. Sascha blickte sie lächelnd an und be- gann Tee zu kochen. Das Klappern des Geschirrs rief die Mutter in die Wirklichkeit zurück. Ach, verzeihen Sie, ich habe mich verschwatzt! Ist eine so große Freude, einen Landsmann zu sehen..." Ich muß um Verzeihung bitten, daß ich hier eigen- mächtig wirtschafte! Aber es ist schon elf Uhr, und ich muß noch weit gehen.. Wohin? In die Stadt?" fragte die Mutter erstaunt. «vM. Wirklich? Ist so dunkel und so naß draußen, Sie sind müde! Uebernachten Sie doch hier... Jegor Jwanowitsch schläft in der 5füche und wir beide hier..." Nein, ich muß gehen!" erklärte das Mädchen einfach. Ja, Landsmännin, das Fräulein muß unbedingt von hier verschwinden. Man kennt sie hier... Wenn sie sich morgen auf der Straße zeigt, so ist das schlimm," erklärte Jegor. Aber was wird sie denn anfangen?... Allein fort- gehen?" Allerdings allein!" sagte Jegor lächelnd. Das Mädchen goß sich Tee ein, nahm ein Stück Schwarz- brot, bestreute es mit Salz und begann zu essen, indem sie die Mutter nachdenklich anblickte. Wie können Sie nur so gehen? Sie und Natascha... Ich würde es nicht wn... ich habe Angst!" sagte Frau Wlassow  . Die hat sie auch!" bemerkte Jegor.Haben Sie Furcht, Sascha?" Natürlich!" erwiderte das Mädchen. Die Mutter sah sie an, blickte dann nach Jegor hin und rief leise: Wie sind Sie streng!" Als Sascha Tee getrunken hatte, drückte sie Jegor schweigend die Hand und ging in die Küche: die Mutter be- gleitete sie. In der Küche sagte Sascha: Wenn Sie Ihren Sohn sehen grüßen Sie ihn von mir... bitte!" Und während sie nach dem Türhaken griff, wandte sie sich plötzlich um und fragte leise: Darf ich Sie küssen?" Die Mutter umarmte sie schweigend und küßte sie innig, Ich danke Ihnen!" sagte das Mädchen leise und ging kopfnickend fort. Ins Zimmer zurückgekehrt, blickte die Mutter unruhig zum Fenster hinaus. In der dichten, feuchten Finsternis fielen nasse Schneefetzen zur Erde. Erinnern Sie sich noch an Prosorows? Die Krämers-- leute?" fragte Jegor. Er saß mit breitanfgepflanztcn Beinen da und blies lauk auf sein Glas Tee. Sein Gesicht war rot, schweißig und zu- frieden. Ja, ja, ich erinnere mich.. sagte die Mutter nach- denklich, mit der Seite an den Tisch herantretend. Sie setzte sich, warf Jegor einen traurigen Blick zu und meinte ge- dehnt: Ei et ei.». diese Sascha.,, Wie die nur hin- kommt?" Sie wird müde sein!" pflichtete Jegor ihr bei.«Das Gefängnis hat ihr sehr zugesetzt, früher war sie kräftiger.., Außerdem ist sie etwas weichlich erzogen... Ich glaube, sie hat sich die Lunge schon verdorben..." Was ist sie für eine?" erkundigte sich die Mutter leise« Tochter eines Gutsbesitzers. Ihr Vater ist ein reicher Mann und ein schlauer Patron. Wissen Sie, Gevatterin, daß sie sich heiraten wollen?" Wer?" Sie und Pawel... aber ich glaube, da wird nichts draus: wenn er frei ist, sitzt sie im Gefängnis, und um- gekehrt!" Das habe ich nicht gewußt" erwiderte die Mutter nach kurzem Schweigen.Pawel spricht nicht von sich." Jetzt tat ihr das Mädchen noch mehr leid. Sie blickte unwillkürlich und ärgerlich auf den Besuch und sagte: Sie hätten sie begleiten sollen!" Was sich schwerlich einrichten läßt!" erwiderte Jegor ruhig.Ich habe hier massenhaft zu tun, und muß von frühmorgens an den ganzen Tag hin und her laufen. Keine angenehme Arbeit bei meinem Asthma.. Ein gutes Mädchen," sagte die Mutter unbestimmt. indem sie an das dachte, was Jegor ihr mitgeteilt. Es kränkte sie, die Neuigkeit nicht von ihrem Sohn, sondern von diesem fremden Menschen gehört zu haben: sie preßte die Lippen zusammen und senkte die Brauen. Ganz richtig, sie ist gut!" nickte Jegor.Beißt zwar immer noch die Ädelige heraus, aber das gibt sich schon. Ich sehe, sie tut Ihnen leid... Das hat keinen Zweck! Ihr Herz reicht einfach nicht, Gevatterin, wenn Sie alle Nebellen, die wir da sind, bedauern wollen... Eigentlich hat keiner von uns es leicht... Zum Beispiel kehrte kürzlich ein Freund von mir aus der Verbannung zurück... Als er aus Nischni  fuhr erwarteten Frau und Kind ihn in Smolensk  , und als er in Smolensk   erschien, saßen sie in Moskau   bereits im Ge- fängnis. Jetzt ziehen die Gatten abwechselnd nach Sibirien  , Ich hatte auch eine Frau, ein reizendes Wesen fünf Jahre dieses Lebens haben genügt, sie ins Grab zu bringen." Er trank in einem Zuge ein Glas Tee und erzählte weiter. Er sprach von den Jahren und Monaten, die er im Gefängnis, in der Verbannung zugebracht, sprach von der- schiedenen Unglücksfällen, vom Morden im Gefängnisse, vom Hunger in Sibirien  : die Mutter sah ihn an, hörte ihm zu und wunderte sich, wie einfach und ruhig er von diesem Leben voller Leiden, Verfolgungen und Mißhandlungen sprach. Aber lassen Sie uns von unserer Angelegenheit sprechen!" Seine Stimme veränderte sich, sein Gesicht wurde ernster. Zuerst fragte er sie, wie sie die Flugblätter in die Fabrik zu bringen gedächte, und die Mutter wunderte sich über seine genaue Kenntnis verschiedener Einzelheiten. Als das erledigt war, sprachen sie wieder über ihr Hei- matsdorf: er scherzte, sie aber kramte nachdenklich in ihrer Vergangenheit, und die erschien ihr sonderbar ähnlich einem Sumpfe, der gleichmäßig mit kleinen Erdhllgeln besät und mit zarten, stets furchtsam zitternden Espen, niedrigen Tannen und zwischen den Hügeln verstreuten, weißen Birken bestanden ist. Die Birken wuchsen langsam, und wenn sie fünf Jahre ailf dem morastigen, verfaulten Boden gestanden,