ich jetzt unter Euch, bisweilen denke ich nachts an die Ver- gangenheit, an meine Kraft, die unter die Füße getreten ist, an mein junges Herz, das man wund geschlagen hat— und da tu ich mir leid, da ist mir schwer zu Mute! Aber trotz- dem ist mein Leben jetzt besser geworden.,. und ich lerne mich immer mehr kennen.. Der Kleinrusse stand auf, und der große, hagere, nach- denkliche Mensch begann behutsam im Zimmer auf und ab zu gehen. „Das habt Ihr recht schön gesagt!" rief er leise.„Schön. In Kertsch lebte ein junger Jude, der machte Gedichte und schrieb eines Tages ein Gedicht: Die ihr unschuldig gemordet— Läßt die Wahrheit auferstehen.... Ihn selbst hat die Polizei in Kertsch gemordet, aber das ist — Nebensache. Er hat die Wahrheit gekannt und viel Wahr- heit unter den Menschen verbreitet... So seid auch Ihr — so ein unschuldig gemordetes Wesen..» Was er gesagt hat, ist ganz richtig..." „Ich rede jetzt," fuhr die Mutter fort,„rede und hör mich— das kommt mir selbst kaum glaublich vor. Hab das ganze Leben geschwiegen, immer nur an das eine gedacht — wie ich den Tag unbemerkt hinbringen könnte, damit niemand mir zu nahe tritt! Jetzt dagegen denke ich an alle... Vielleicht verstehe ich auch jetzt Eure Angelegen- heiten nur halb— aber Ihr seid mir doch alle so nahe, alle tun mir leid, allen wünsche ich Gutes. Und Euch, Andrej, ganz besonders!.. Er trat zu ihr und sagte: „Danke! Von mir lohnt es nicht zu reden..." Er nahm ihre Hand, drückte sie kräftig, schüttelte sie und wandte sich schnell zur Seite. Von der Erregung müde, wusch die Mutter langsam die Tassen und schwieg: in ihrer Brust glomm ein mutiges, das Herz still wärmendes Gefühl. (Fortsetzung folgt.) (Nochdruck verboten.) Gletrdwftudieii. Von Dr. Walther Klein(Berlin ). Nicht nur die große Schar der Hochtouristen, die in der gegen- wärtigen Reisezeit sich an den Schönheiten und Wundern der Alpen - Welt bei ihren Wanderungen im Hochgebirge über glitzernde Schnee- felder, über Firne und Grate erfreuen, sondern auch die noch größere Zahl derjenigen, die lediglich aus Reiseschilderungen jene grandiosen Raturszenericn kennen lernen, hat ein Interesse daran zu erfahren, wie sich die Wissenschaft zu den zahllosen Fragen stellt, zu denen die Alpenwelt Anregung gibt. Besonders wendet sich dieses Interesse den anscheinend unbeweglich starren, Furcht und Schrecken einflößenden Massen ewigen Eises, der Gletscherwelt, zu. Nun kann allerdings auf solche Fragen eine auch nur einiger- maßen genügende Antwort im Rahmen eines Aufsatzes nicht ge- geben werden; wohl aber dürfte schon die Berührung einzelner Punkte, besonders die Behandlung der geographischen Verteilung jener Eismassen, imstande sein, sowohl die hohe wissenschaftliche Bedeutung der in den letzten Jahrzehnten besonders rasch vor- geschrittenen Gletscherforschung darzutun, als auch die Gletscher als ein wichtiges Glied in der Kette jener Erscheinungen zu charak- terisieren, die man als„Kreislauf des Wassers zwischen Erdober- fläche und Atmosphäre" bezeichnet. Was sind Gletscher und worin besteht ihr Wesen? Professor Heß, dessen vor wenigen Jahren erschienenes Werk„Die Gletscher" den neuesten Stand der Glctscherforschung enthält, definiert Gletscher als Eismassen, die auf geneigter Unterlage wie eine zähe Flüssigkeit unter dem Einflüsse der Schwerkraft langsam abwärts strömen. Sie bringen die Niederschlagsmengen, die in ihrem Ausgangspunkt aufgefangen werden und dort fast ausschließlich als Schnee fallen, in tiefere Regionen, in denen die Wärme der Umgebung und die Strahlung der Sonne ausreichen, um sie zu verflüssigen. Ihre Existenz ist davon abhängig, daß ein größeres Landgebiet in die„Region des ewigen Schnees" aufragt; sie find demnach ebensosehr ein Produkt klimatischer Verhältnisse, als sie andererseits an die Erhebungen der Festländer gebunden erscheinen. Weil das Klima an den einzelnen Punkten der Erdoberfläche Schwankungen durchmacht, so müssen die Gletscher in ihrer Aus- dehnung Veränderungen unterworfen sein, die entweder ganz oder doch annähernd den Klimaschwankungen parallel gehen. Bestimmen neben der Menge der Niederschlüge die.Geländeformen Größe. Gestalt und Geschwindigkeit der Eisströme, so bewirken doch diese wieder langsame, aber stetige Veränderungen ihres Bettes. Der feste Fels verwittert unter"der bewegten Eisdecke; die Vcrwitte- rungsprodukte werden mit dieser fortbewegt, bearbeiten das an- ftehende Gestein und treten entweder an den Rändern der Eis- Massen oder mitten auf derselben zutage, wo fie dann stellenweise mit dem Verwitterungsschutt der eisfreien steilen Gehänge gemischt, lange Schuttrücken, Moränen bilden, die in der Bewegungsrichtung des Eises verlaufen. Die Gletscherbedeckung der Erde wird verschieden angegeben. Während H. Wagner etwa 11 Millionen Quadratkilometer, der Franzose Nabot 11 VI- Millionen annimmt, beträgt sie nach Heß 15,2 Millionen Quadratkilometer, d. h. zirka drei Prozent der ganzen Erdoberfläche bezw. zehn Prozent der Festlandsoberfläche. Weitaus der größte Anteil der Vergletscherung trifft auf die polaren Gebiete. Im einzelnen läßt sich sagen, daß das ganze Alpcngebiet von der Moifiblanckette bis zur Ankogelgruppe 3765 Quadratkilometer Eisbedeckung hat. Nur das Areal der Gletscher im Dauphinä und im westlichen italienischen Alpcngebiet fehlt dabei und die Ent- Wickelung des Gletscherphänomens ist in den Pyrenäen ziemlich schwach— entsprechend der Gestaltung des Gebirges— von dem nur ein relativ kleiner Teil über die Höhe der Schneegrenze emporsteigt(höchster Gipfel Maladata 3464 Meter). F. Schräder bestimmt das von Schnee und Eis bedeckte Gebiet zu insgesamt 40 Quadratkilometer.— Der Kaukasus , der 169 Talgletscher, 659 Kar- und Hängcgletscher zählt, ist auf etwa 1840 Quadratkilometer Ausdehnung vergletschert. Vergeblich würde man in den Alpen gleich großartig ausgestaltete gletschererfüllte„Zirkustälcr" und so ungemein malerische Eiskaskaden suchen, wie fie im Kaukasus vorkommen. Auch trennt hier Gletscherende und Beginn des Pflanzenwuchses nicht, wie dies in den Alpen meist der Fall ist» eine breite Zone sterilen Gerölls und Felsenterrains, sondern die Fruchtbarkeit des Verwitterungsprodukts der Gesteine oder andern» orts die große Menge zugeführter atmosphärischer Feuchtigkeit im Kaukasus hat zur Folge, daß oft lange, bevor der Eisstrom auf- hört, die Vegetation schon beginnt; man hat häufig Gelegenheit, die starren EiSmassen umrandet von den blühenden Kindern einer lieblichen Alpenflora zu sehen.— Die stärkste Eisbedeckung in Europa trägt die an der Westseite der skandinavischen Halbinsel von Süden nach Norden, oft mehr als 2000 Meter Höhe erreichende Gebirgskette: nicht weniger als 5000 Quadratkilometer sind in seinem Bereiche durch Firn und Gletscher eingenommen, 4600 Quadratkilometer in Norwegen und 400 Quadratkilometer in Schweden . Die isländischen, dem JnlandeistypuS angchörigcn Gletscher, deren besondere Eigentümlichkeit eS ist, daß die Gipfel, aus deren Gebiet sie strömen, tätige Vulkane sind, bedecken nicht weniger als 13 400 Quadratkilometer, etwa den fünften Teil deS Flächeninhalts von Island . Der durch einen warmen Meeresstrom auf die Entwickclung von Gletschern ausgeübte Einfluß zeigt sich so recht augenfällig an der Nordwestküste Amerikas . Alaska wird von dem Golfstrom deS Pazifischen OzeanS bespült; infolgedessen sind die Nicderschäge häufig und geben Veranlassung zu einer ganz außerordentlichen Eisbildung. In derselben Breite wie in Südnorwegen findet man dort ungeheure Eismassen, die das Niveau des Meeres erreichen. Die alaskischen Gletscher bilden einen besonderen Typ der Ver- eisung. Einige dieser Ströme, die in ihrem oberen Teile das alpine Aussehen haben, kommen in den unteren Gegenden in allzu mächtigen Massen nieder, um durch Schmelzungen zerstört zu werden: daher erstrecken sie sich zu Füßen der Berge in ungeheueren Massen, die die am Niveau des Meeres gelegenen Ebenen bedecken. So bedeckt der MalaSpinagletscher, in dessen unmittelbarer Nähe nicht nur eine reiche Flora gedeiht, sondern auch die in wärmerer, aber feuchter Gegend lebende Fauna anzutreffen ist, eine Fläche von fast 5000 Quadratkilometer. Im ganzen ist Nordamerika und Alaska mit etwa 20 000, Südamerika mit etwa 10 000 Quadrat- kilometer Gletschereis bedeckt. Sehen wir von Afrika mit 20 und Neuseeland mit etwa 1000 Quadratkilometer Vergletscherung ab, so fällt naturgemäß der Löwenanteil der Gletscherbedeckung den Polarländern zu. Allein auf Grönland kommt eine Jnlandeisdecke, die etwa 1,9 Millionen Quadratkilometer des 2,1 Quadratkilometer großen Kontinents umfaßt. Nansen, der in kühner Wanderung auf Schneeschuhen das Binneneis in vierzig Tagen auf einer 560 Kilometer langen Strecke, die bis zu 2720 Meter anstieg, durchquerte, vergleicht die Form des Inlandeises mit der eine Schildes. Dieses Inlandeis ist ein Gletscher von kolossalen Dimensionen. In dieser gewaltigen Aus- dehnung liegt das Fremdartige, das viele Forscher veranlaßt?, das Inlandeis als etwas qualitativ anderes wie die Alpengletscher anzusehen; sie ist auch die Ursache, warum gerade dieses in be- sondcrem Maße als Rest der Eiszeit angesprochen wurde. Nun, nachdem wir vor allem durch Nansens kühne Forschungsreise wissen, daß ein sehr großer Teil der Eisoberfläche in bedeutende Höhen von mehr als 2000 Meter emporragt, sehen wir die Abfluß- bedingungen gegeben, die den Transport der Niederschlagmengen aus dem Innern des Landes ermöglichen. Eine der interessantesten und eigentümlichsten Erscheinungen der Gletscher ist ihre Bewegung und ihre Verminderung bezw. Zu- nähme. Was zunächst die letztere betrifft, so ist, wenigstens für unsere Alpenwclt, als sicher festzustellen, daß deren Gletscher in den letzten Jahren zweifellos zurückgehen. Bei manchen hat die Ver- Minderung sogar große Dimensionen angenommen. Es wäre in» dessen falsch, anzunehmen, daß ein solches Zurückgehen von den Bewohnern freudig begrüßt wird. Im Gegenteil! Das den Gletschern abgewonnene Land ist mit Moränen und Stein- trümmern aller Art bedeckt, für den Menschen also wertlos, auf
Ausgabe
24 (31.7.1907) 146
Einzelbild herunterladen
verfügbare Breiten