Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 152.

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Die Mutter.

Donnerstag. den 8 August.

( Nachdruck verboten.)

Roman von Magim Gorki. Deutsch von Adolf Heß. Wjessowtschikow blieb allein. Er blickte sich um, streckte jeinen Fuß mit dem schweren Stiefel aus, betrachtete ihn, beugte sich vornüber und befühlte seine dicke Wade. Dann hob er die Hand ans Gesicht und betrachtete sie aufmerksam. Er hatte eine dicke Hand mit furzen Fingern und gelblichen Haarstoppeln. Als Andrej den Samowar brachte, stand Wiessowtschikow vor dem Spiegel und empfing ihn mit fol­genden Worten:

,, Hab meine Visage lange nicht betrachtet..." Und fügte lächelnd und kopfschüttelnd hinzu: Hab doch eine garstige Frage!"

Was ist denn dabei?" fragte Andrej und sah ihn neu­gierig an.

"

Sascha sagt: Das Gesicht ist der Seele Spiegel!" Aber das stimmt nicht!" rief der Kleinrusse. Shre Nase ist wie ein Haken, die Backenknochen wie eine Schere, ihr Herz aber ist ein heller Stern!"

Sie setten sich zu Tisch. Wiessomtschikom nahm eine große Kartoffel, falzte aus giebig ein Stick Brot und begann langsam und ruhig wie ein Stier zu fauen.

Wie gehts hier?" fragte er mit vollem Munde. Als Andrej ihm vergnügt erzählte, daß die Propaganda für den Sozialismus in der Fabrik zunähme, meinte er wieder finster und dumpf:

,, Das dauert alles zu lange, viel zu lange! Muß schneller gehen

"

Die Mutter blickte ihn an und in ihrem Innern regte sich ein feindseliges Gefühl gegen diesen Menschen.

,, Das Leben ist kein Pferd, kannst es nicht mit der Peitsche antreiben," sagte Andrej.

Wjessowtschikom schüttelte energisch den Kopf..

Es dauert zu lange! Meine Geduld reicht nicht Was soll ich tun?"

...

Er bewegte die Hände hülflos hin und her, blickte in das Gesicht des Kleinrussen und wartete auf eine Antwort.

,, Wir alle müssen lernen und andere lehren, das ist unsere Aufgabe!" sagte Andrej.

Wjessowtschikow fragte:

Und wann werden wir losschlagen?"

" Daß man uns vorher manch liebes Mal verhauen wird, das weiß ich bestimmt!" erwiderte der Kleinrusse lachend. Wann wir aber vom Leder ziehen das weiß ich nicht! Siehst Du, ich denke, wir müssen erst den Kopf und dann die Hände bewaffnen."

Nikolai begann schweigend wieder zu essen. Die Mutter musterte heimlich sein breites Gesicht und suchte in ihm einen Zug zu entdecken, der sie mit seiner schweren, vierschrötigen Gestalt aussöhnte. Und als sie seinen kleinen stechenden Augen begegnete, bewegte sie die Brauen. Andrej griff sich an den Kopf und benahm sich überhaupt unruhig-begann plötzlich zu reden, lachte, brach seine Rede ab, pfiff.

Die Mutter hatte die Empfindung, seine Unruhe zu ver­stehen. Nikolai aber saß schweigend da, und wenn der Klein­ruffe ihn nach irgend etwas fragte, antwortete er furz, mit deutlicher Unlust.

Den beiden Bewohnern wurde es im kleinen Zimmer eng und schwül; bald blickte der eine, bald der andere flüchtig auf den Gast.

Endlich erhob er sich und sagte: " Ich möchte mich schlafen legen. Habe so lange im Loch gesessen... bin dann plötzlich frei gekommen, viel ge­gangen... und nun müde

Als er in die Küche getreten war und nach kurzem Hin­und Herkramen plöglich still wurde, flüsterte die Mutter ängst­lich lauschend Andrei zu:

"

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,, Er denkt an schreckliche Dinge " Ja, er ist schwer zu behandeln!" stimmte ihr der Klein­russe bei und schüttelte den Kopf. Aber das geht vorüber! War bei mir ebenso... Wenn die Flamme im Herzen nicht

n

1907

hell brennt- fammelt sich da viel Ruß an. Na, Mütterlein, Ihr solltet auch schlafen gehen, ich bleibe noch ein Weilchen figen und lese."

[..

Sie ging in die Ecke, wo hinter einem Rattunvorhang Fihr Bett   stand, und Andrej, der am Tisch saß, hörte noch lange ihr inbrünstiges Beten und Seufzen. Er blätterte die Seiten schnell um, rieb sich erregt die Stirn, drehte mit seinen langen Fingern den Schnurrbart und scharrte mit den Füßen. Der Uhrpendel tickte, vor dem Fenster atmete, an den Scheiben Hingleitend, der Wind.

Und man hörte die leise Stimme der Mutter:

,, Ach Gott  ! Wie viele Menschen gibt es in der Welt... und jeder stöhnt auf seine Art... Wo sind denn die, die sich freuen?"

Es gibt auch solche, ja. Bald werden es viele sein," era widerte der Kleinrusse.

XXI.

Das Leben floß schnell dahin, die Tage waren bunt, mannigfaltig. Jeder Tag brachte etwas Neues, aber das be­unruhigte die Mutter schon nicht mehr. Immer häufiger erschienen abends unbekannte Leute; sie unterhielten sich eifrig halblaut mit Andrej und gingen spät nachts mit hoch­geklapptem Kragen, die Müße tief in die Augen geschoben, vorsichtig und geräuschlos in der Dunkelheit fort. Man fühlte in jedem verhaltene Erregung, es war, als wollten alle fingen und lachen; sie hatten aber keine Zeit dazu, hatten stets Eile. Die einen waren spöttisch und ernst, die anderen offenbar ver­gnügt, übermütig in der Kraft ihrer Jugend, die dritten nach­denklich, still. Alle hatten in den Augen der Mutter etwas Hartnäckiges, Zuversichtliches, und obwohl jeder sein eigenes Gesicht hatteflossen für sie all diese Gesichter in ein ein­ziges, hageres, ruhig entschlossenes, offenes Gesicht mit tiefen, dunklen, freundlichen und strengen Augen zusammen, wie bei dem Christus auf dem Wege nach Emmaus.

Die Mutter zählte sie, versammelte sie in Gedanken um Pawel in dieser Menge blieb er vor seinen Feinden unbe­merkt.

-

Eines Tages erschien ein munteres Mädchen mit lockigem Haar aus der Stadt; sie brachte eine Rolle Schriften für Andrej und sagte beim Abschied zu Frau Wlassow  , indem ihre Augen strahlten:

,, Auf Wiedersehen, Genossin!"

Auf Wiedersehen," erwiderte die Mutter, ein Lachen verbeißend.

Nachdem sie das Mädchen hinaus geleitet, trat sie ans Fenster und beobachtete lachend, wie ihre Genofsin, mit den kleinen Füßen trippelnd, frisch wie eine Frühlingsblume und leicht wie ein Schmetterling auf der Straße dahinhuschte.

Genosse!" dachte die Mutter, als der Besuch verschwunden war. Ach, Du liebes Ding! Gebe Gott   Dir einen Genossen fürs ganze Leben."

Sie bemerkte oft an allen Besuchern aus der Stadt etwas Kindliches und lächelte leutselig darüber, gleichzeitig war sie gerührt und freudig überrascht über ihren Glauben, dessen Stärke sie immer lebhafter fühlte; ihre Träume vom Triumph der Gerechtigkeit taten ihr wohl und erwärmten sie; wenn sie ihnen zuhörte, seufzte sie unwillkürlich vor Summer, dessen Grund sie nicht kannte. Besonders rührte sie aber ihre Ein­fachheit und die prächtige, stolze Gleichgültigkeit gegen sich selbst.

Sie berstand bereits vieles von dem, was sie über das Leben äußerten, fühlte, daß sie wirklich die wahre Quelle des Unglücks aller Menschen entdeckt hatten, und war gewohnt, ihren Gedanken beizustimmen. In der Tiefe ihres Herzens glaubte fie aber gar nicht daran, daß sie das Leben nach ihrer Art würden umgestalten können und daß ihre Kräfte dazu ausreichten, die ganze arbeitende Bevölkerung in ihre Be wegung hineinzuziehen. Jeder wollte sich jeden Tag fatt essen, und niemand wollte die Mahlzeit auch nur um acht Tage verschieben, wenn er sie sofort einnehmen konnte. Es waren nur wenige, die den weiten, beschwerlichen Weg gingen, und nicht alle würden das Märchenreich menschlicher Ver­brüderung am Ende des Wegs mit eigenen Augen sehen. Das war der Grund, weshalb ihr all diese guten Menschen trob ihrer Bärte und bisweilen so müden Gefichter als Kinder erschienen.