Unterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 157. Donnerstag, den 15. August. 1907 (Nachdruck verboten.) 831 Die JVIutter. Roman von Maxim Gorki . Deutsch von Adolf Heß. Die Mutter ging nach Hause. „Niemand bedauert ihn!" dachte sie. Vor ihr aber stand die breite Gestalt Nikolais wie ein Schatten, seine schmalen Augen blickten kalt und grausam drein und seine rechte Hand schlenkerte, als hätte er sie verletzt... Als ihr Sohn und Andrej zum Mittagessen kamen, fragte sie zu allererst: „Nun, wie ist's? Ist niemand.». wegen Jssai der- haftet?" „Ich habe nichts gehört!" erwiderte der Kleinrusse. Sie sah, daß beide niedergedrückt und finster waren. „Wird nicht von Nikolai gesprochen?" erkundigte sich die Mutter leise. Die strengen Augen ihres Sohnes hefteten sich auf ihr Gesicht: er sagte eindringlich: „Von ihm wird nicht gesprochen. Denkt kaum jemand an ihn. Er ist gar nicht da. Ist gestern mittag zu Wasser fortgefahren und noch nicht zurück. Ich habe nach ihm ge- fragt..." „Nun, Gott sei Dank!" meinte die Mutter mit einem Seufzer der Erleichterung.„Gott sei Dank!" Der Kleinrusse sah sie an und senkte den Kopf. „Er liegt da," erzählte die Mutter nachdenklich,„und sein Gesicht, sieht ganz verwundert aus. Und niemand be- dauert ihn, niemand hat ihn mit einem guten Worte zugedeckt. Ist so klein und unansehnlich... wie ein trauriger Rest..." Beim Mittagessen warf Pawel plötzlich den Löffel hin und rief: „Das verstehe ich nicht!" „Was?" fragte der Kleinrusse traurig und schweigsam. „Ein Tier nur deswegen töten, weil man essen muß... das ist schon niederträchtig... Ein wildes Tier, einen Räuber töten.... das begreife ich! Ich glaube— ich selbst könnte jemanden niederschlagen, der für die Menschen zum wilden Tier geworden ist. Aber wie kann man ein so widerwärtiges, klägliches Wesen töten— das begreife ich nicht... Wie konnte sich da nur eine Hand erheben." Der Klcinrusse zuckte langsam die Achseln. Dann sagte er: „Er war genau so schädlich, wie ein wildes Tier..." „Ich weiß." „Eine Mücke saugt uns nur wenig Blut aus, und wir schlagen sie doch tot!" fügte der Kleinrusse leise hinzu. „Nun ja... davon spreche ich nicht... Ich sage, es ist ekelhaft." „Was ist dabei zu machen?" meinte Andrej wieder achsel- zuckend.» „Könntest Du so jemanden töten?" fragte Pawel nach langem Schweigen nachdenklich. Der Kleinrusse sah ihn mit seinen runden Augen an, blickte flüchtig auf die Mutter und erwiderte traurig aber fest: „Meinetwegen— rühre ich niemanden an! Für die Genossen und für die Sache— vermag ich alles! Kann sogar jemanden töten, und lvcnn es mein eigener Sohn ist"... „Ach, Andrej!" rief die Mutter leise. Er lächelte ihr zu und sagte: „Es geht nicht anders! Das Leben ist einmal so!..." „Ja— a!..." meinte Pawel gedehnt,„das Leben ist so!" Plötzlich stand Andrej, gleichsam einem inneren Trieb gehorchend erregt auf, fuhr mit den Händen durch die Luft ,md begann: „Was ist dabei zu machen? Man muß auch mal einen hassen, damit bald die Zeit anbricht, wo man alle nur lieben kann. Man muß den vernichten, der das Leben verdirbt, die Menschen für Geld verkauft, um dafür Ruhm und Ehre ein- zuHandeln. Wenn rechtschaffenen Menschen ein Judas in den Weg tritt, der darauf ausgeht, sie zu verraten— werde ich selbst zum Judas, wenn ich ihn nicht vernichte. Das wäre Sünde? Ich hätte nicht das Recht dazu? Aber unsere Herren haben das Recht, Soldaten und Henker zu halten. öffentliche Häuser und Gefängnisse, Zuchthäuser und all die so ekelhaften Dinge, die für ihre Ruhe, ihre Gemütlichkeit sorgen?... Bisweilen muß ich ihre Waffe in die Hand nehmen... � Was soll ich machen? Ich nehme sie. Sie töten uns zu Dutzenden und Hunderten... das gibt mir das Recht, die Hand zu erheben und sie auf einen von den Köpfen der Feinde niedersausen zu lassen... auf denjenigen, der mir am nächsten auf den Leib gerückt ist und meinem Lebenswerk mehr als andere schadet. Das ist die übliche Logik. Gegen sie gehe ich aber an, von ihr will ich nichts wissen! Ich weiß, aus solchem Blute kommt nichts heraus, es ist unfruchtbar!... Die Wahrheit gedeiht, wenn unser Blut die Erde mit reichlichem Regen befeuchtet, ihr ver» faultes Blut geht spurlos verloren, das weiß ich. Aber ich nehme die Sünde auf mich und töte, wenn ich sehe, daß es notwendig ist. Ich spreche nur von mir... Meine Sünde stirbt mit mir, befleckt nicht die Zukunft, besudelt niemand anders als nur mich..." Er ging im Zimmer auf und ab, schlug durch die Lust, wehrte etwas von sich ab. Die Mutter sah ihn voll Kummer und Unruhe zu; sie fühlte, daß er sich innerlich gleichsam verhoben hatte. Die dunklen, drohenden Gedanken über den Mord wichen von ihr— wenn Wjessotschikow ihn nicht getötet hatte, konnte von Pawels Freunden es niemand getan haben, dachte sie. Pawel hörte dem Kleinrussen mit gesenktem Kopfe zu, der aber fuhr hartnäckig und kräftig fort: „Auf dem Wege, der in die Zukunft führt, muß man bisweilen gegen seinen eigenen Willen handeln. Man muß alles hingeben, sein ganzes Herz... Sein Leben für die Sache opfern ist nicht schwer! Man muß das hingeben, was einem teurer ist als das Leben. Nur dann kann das aller- schwerste, die Wahrheit, gedeihen!" Er blieb mitten im Zimmer stehen und fuhr dann etwas blaß mit halb geschlossenen Augen und erhobener Hand in einem feierlichen Gelübde fort: -„Ich weiß, es kommt eine Zeit, wo jeder sich über den Anblick des anderen freuen, jeder dem andern als ein Stern erscheinen, jeder ihn wie Musik anhören wird! Freie, in ihrer Ungebundcnheit große Menschen mit offenem Herzen, werden über die Erde schreiten... Dann gibt es kein Leben mehr, sondern nur noch einen Menschendienst, welcher das Bild der Menschen erhöht; für freie Menschen sind alle Höhen er- reichbar! Dann wird man wahr und frei für die Schönheit leben, und als beste werden die gelten, die mit ihrem Herzen am meisten von der Welt umfangen, die sie am stärksten lieben... die besten werden die sreicsten sein— in ihnen liegt am meisten Schönheit! Dann wird das Leben groß. und groß die Menschen, die es leben..." Er schwieg, richtete sich auf, pendelte wie ein Glocken- klöppel hin und her und sagte tief aus der Brust: „Für solches Leben— tue ich alles... reiße das Herz aus der Brust, wenn es sein muß und trete es selbst mit Füßen." Sein Gesicht zitterte und es schien erregt und glänzend; aus seinen Augen aber tropften eine nach der anderen große, schwere Tränen. Pawel erhob den Kopf und sah ihn blaß mit weit ge« öffneten Augen an; die Mutter erhob sich vom Stuhl, sie fühlte, wie dunkle Unruhe sich auf sie zubewegte. „Was hast Du, Andrej?" fragte Pawel leise. Der Kleinrusse schüttelte den Kopf, spannte sich wie eint- Saite und sagte mit einein Blick auf die Mutter: „Ich habe es gesehen... Ich weiß Bescheid..." Sie stand auf, trat am ganzen Leib zitternd auf ihn zu und ergriff seine Hände. Er versuchte ihr die rechte zu entziehen, aber sie hielt sie krampfhaft fest und flüsterte leidenschaftlich: „Mein Teuerster, sei still! Mein Liebling... es ist nichts... nichts... Ist nichts, Pawel!" „Wartet einmall" murmelte der Kleinrusse dumpf.„Ich will Euch sagen, wie es war." „Nicht nötig!" flüsterte sie, ihn unter Tränen anblickend. „Nicht nötig, Andrej.. Pawel trat langsam herzu und blickte den Freund mit keuchten Augen an. Er war blak und taate lanasam:
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24 (15.8.1907) 157
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