Anterhaltungsblatt des vorwärts Nr. 167. Donnerstage den 29� August. 1907 (Nachdruck verboten.) «J Die JVIuttcr. Roman von Maxim Gorki . Deutsch von Adolf Heß. Unter den Polizeizeugen war Marja Korssunowa. Sic stand neben der Mutter, blickte sie aber nicht an, und wenn der Offizier sich mit irgendeiner Frage an sie wandte, ant» wartete sie mit einer schnellen tiefen Verbeugung: Ich weiß nicht. Herr Leutnant. Bin ein ganz un- gebildetes Weib, das nur Handel treibt und sonst nichts der» steht.. Nun, schweig still I" befahl der Offizier und bewegte den Schnurrbart. Sie verneigte sich abermals, drehte ihm heim- lich eine fange Nase und zwinkerte der Mutter zu. Man hieß sie Frau Wlassow untersuchen. Sie blickte den Offizier mit großen Augen starr an und sagte erschreckt: Herr Leutnant, das verstehe ich nicht!" Er stampfte mit dem Fuß auf und schrie. Marja schlug die Augen nieder und bat die Mutter leise: Nun, also... Knöpf' mal auf, Pelagea Nilowna.. Dann durchsuchte und befühlte sie ihr Kleid und flüsterte mit rotem Geficht: Ach.die Hunde. -, was?" Was sprichst Du da?" rief der Offizier finster und blickte in die Ecke, wo sie Frau Wassow durchsuchte. Ueber weibliche Angelegenheiten, Herr Leutnant!" murmelte Marja erschreckt. Als er der Mutter befahl, das Protokoll zu unter- schreiben, zeichnete sie mit unkundiger Hand in fett glänzen- den Druckbuchstaben: Arbciterwitwe Pelagea Nilowna Wlassow." Was hast Du da geschrieben? Was soll das?" rief der Offizier mit verächtlichem Gesichtsausdruck und fügte lachend hinzu: Barbaren!" Sie gingen fort. Die Mutter stand am Fenster, hatte die Hände auf der Brust verschränkt, blickte lange vor sich hin und preßte die Lippen fest zusammen. Das Petroleum in der Lampe brannte auS, die Flamme knisterte leise und wollte erlöschen. Sie blies sie aus und blieb im Dunkeln. Sie spürte weder Wut noch Kränkung: qualvolle Gedanken- losigkeit zog als dunkle, kalte Wolke in ihr Inneres und machte ihr Herz stocken. Sie stand lange da Beine und Augen wurden ihr müde. Sie hörte, wie Marja vor dem Fenster stehen blieb und betrunken rief: Pelagea, schläfst Du? Unglückliche,,. Schlaf nur! Andere haben ebenso zu leiden...." Die Mutter legte sich unausgekleidet auf das Bett und versank schnell in schweren Schlaf, als fiele sie in einen tiefen Abgrund. Sie träumte von dem gelben Sandhaufen hinter dem Sumpf auf dem Wege zur Stadt. An seinem Rande, über dem Abhänge, der zu den Sandgruben führte, stand Pawel und sang mit Andrejs Stimme leise und klangvoll: .Steh auf, erheb dich, Arbeitervolk..." Sie ging auf dem Wege an dem Sandhaufen vorüber, legte die flache Hand gegen die Stirn und blickte auf ihren Sohn. Auf dem Grunde des blauen Himmels zeichnete sich seine Gestalt deutlich und scharf ab. Sie konnte sich nicht entschließen, zu ihm zu gehen, sie schämte sich, weil sie schwanger war. Und auf dem Arm hatte sie noch ein Kind. Sie ging weiter. Auf dem Felde spielten Kinder Ball, es waren viele, und der Ball war rot. Das Kind auf dem Arme strampelte ihnen entgegen und weinte laut. Sie gab ihm die Brust und kehrte zurück, aber auf dem Sandhaufen standen schon Sol- baten, die die Bajonette gegen sie richteten. Sie lief schnell zur Kirche, die mitten auf dem Felde stand, eine weiße, schöne Kirche, die wie aus Wolken gebaut und unermeßlich hoch war. Eine Begräbnisfeier wurde abgehalten. Der Sarg war groß, schwarz und verschlossen. Der Pope und Küster gingen in weißen Meßgewändern in die Kirche und sangen: Christus ist von den Toten auferstanden.. Der Küster schwenkte das Weihrauchbecken, verbeugte sich bor ihr und lächelte: sein Haar war hellrot und das Gesicht vergnügt wie das Samoilows. Von oben aus der Kuppel fielen handtuchbrejte Sonnenstrahlen. Auf beiden Chören sangen Knaben leise: Christus ist von den Toten auferstanden.-- Nehmt sie fest!" schrie plötzlich der Pope, der Witten in der Kirche stehen blieb. Das Metzgewand glitt von ihm ab. in seinem Gesicht erschien ein grauer, strenger Schnurrbart. Alle stürzten fort, auch der Küster schleuderte das Weihrauch- decken beiseite, lief davon und rieb sich mit den Händen den Kopf, wie der Kleinrusse. Tie Mutter warf das Kind den Leuten unter die Füße, sie liefen aber vorhei und blickten furchtsam auf den kleinen, nackten Körper: während sie selbst auf die Knie fiel und ihnen zuschrie: Verlaßt das Kind nickt! Nehmt es mit»» Christus ist von den Toten auferstanden..." sang der Kleinrufse, hielt die Hände auf dem Rücken und lächelte.... Sie beugte sich nieder, hob das Kind auf und setzte es auf eine Fuhre Bretter, neben der Nikolai langsam schritt. Er lachte und sagte: Jetzt hat man mir eine schwere Arbeit gegeben... Auf der Straße war es schmutzig, aus den Fenstern guckten Leute, pfiffen, schrien und schwenkten die Hände. Der Tag war heiter, die Sonne brannte hell, warf aber keinen Schatten. Singt doch, Mütterlein l" sagte der Kleinrusse.Das Leben ist einmal sol" Und sang mit seiner lachenden, alles übertönenden Stimme. Die Mutter schritt hinter ihm her und jammerte. Warum macht er sich über mich lustig?.. Aber plötzlich stolperte sie, flog in unergründliche Tiefe, aus der ihr fchreckliches Geheul entgegentönte. Sie erwachte zitternd und ganz in Schweiß. Sie horchte auf sich selbst und wunderte sich. In ihrer Brust war es leer, als wenn eine zottige, schwere Hand ihr Herz ergriffen und es böswillig ausgepreßt hätte. Hartnäckig ertönte der Ruf zur Arbeit. Aus dem Klang erriet sie, daß es schon das zweite Mal war. Im Zimmer lagen Bücher und Klcidungs» stücke unordentlich durcheinander, alles war von der Stelle gerückt, umgestürzt, der Fußboden vollgetreten. Sie stand auf und räumte, ohne sich zu waschen und ohne zu beten, das Zimmer auf. In der Küche fiel ihr der Stock mit dem roten Tuchlappen in die Augen. Sie ergriff ihn feindselig und wollte ihn in den Ofen schieben, löste aber dann seufzend den roten Fahnenfetzen los. faltete ihn sorg- fältig zusammen und steckte ihn in die Tasche. Den Stock warf sie auf den Herd. Dann wusch sie die Fenster und den Fußboden, stellte den Samowar aus und kleidete sich an.... Sie setzte sich vor das Fenster in der Küche, und wieder tauchte die Frage vor ihr auf: Was wird jetzt?" Ihr siel ein, daß sie noch nicht gebetet hatte, sie trat vor das Heiligenhild, blieb einige Sekunden davor stehen und fetzte sich wieder in ihrem Herzen war es leer. Der Uhrpendel, der stets mutig getickt hatte, als sei er überzeugt, durch sein Ticken bald etwas unbedingt Notwen- diges einzuholen, verzögerte heute seine schnellen Schläge, und die Fliegen summten unentschlossen und schlugen blind gegen die Fensterscheiben.... In der Vorstadt war es sonder- bar still als wenn alle Leute, die auf der Straße so viel geschrien, sich heute in den Häusern versteckt hätten und schweigend üher den ungewöhnlichen Tag nachdächten. Plötzlich fiel ihr ein Bild ein, das sie einst in ihrer Jugend gesehen hatte. In dem alten Park des Herrn Sausailow war ein großer, dicht mit Wasserrosen bewachsener Teich. Als sie an einem grauen Herbsttage an dem Teich vorüberging, erblickte sie mitten auf ihm einen Kahn. Der Teich war dunkel, unbeweglich, und der Kahn war wie an- geklebt auf dem schwarzen Wasser und traurig mit gelben Blättern geschmückt. Tiefer, unfaßbarer Kummer wehte von diesem einsamen, unbeweglichen Kahn ohne Steuer und Ruder auf dem mitten Wasser inmitten abgestorbener Blätter. Die Mutter hatte dama.s ränge nachdenklich am Ufer des Teiche» gestanden. Wer m»chte den Kahn vom Ufer abgestoßen haben und warum?.. Es kam ihr jetzt so vor, als wenn sie selbst dem Kahn gl-ch, der sie damals an einen Sarg erinnerte. Am selben Abenl erfuhr man, daß sich die Frau des Kommi»