Unterhaltungsölatt des Horwärts
Nr. 172.
Donnerstag den o September.
1907
(Nachdruck verboten.)
4SZ
Die JVIuttcr.
Noman von Maxim Gorki . Deutsch von Adolf Heß. Die Leute erschraken heftig und verbrachten die ganze Nacht schlaflos, erwarteten jeden Augenblick, daß man bei ihnen anklopfen würde, konnten sich aber nicht entschließen, sie den Gendarmen auszuliefern, und am Morgen lachten sie mit ihr über die Polizei. Ein andermal fuhr sie als Nonne verkleidet in einem Waggon und auf einer Bank mit einem Spion, der sie auszuspüren hatte. Er rühmte sich seiner Geschicklichkeit und erzählte ihr, wie er das anstelle. Er war sicher, daß sie mit diesem Zuge in einem Waggon zweiter Klaffe fahre, stieg auf jeder Station aus und meinte dann, wenn er zurückkehrte: „Nichts zu sehen... muß sich schlafen gelegt haben. Die Leute werden schließlich auch müde... führen ein schweres Leben, gerade wie wir." Die Mutter hörte ihrer Erzählung lachend zu. Hoch und hager schritt Sophie mit ihren hübschen und starken Füßen leicht und fest auf der Chaussee dahin. In ihrem Gang, ihren Worten, in ihrer wenn auch etwas dumpfen, so doch mutigen Stimme und in der ganzen Gestalt lag viel Gesundheit, fröhliche Unternehmungslust und Streben in die Weite. Ihre Augen sahen überall etwas, was ihr geradezu kindliche Freude machte. „Da sehen Sie, die prächtige Tanne I" rief Sophie, der Mutter einen Baum zeigend. Diese blieb stehen und blickte hin, die Tanne war nicht höher und nicht dichter wie die anderen. „O ja, ein hübscher Baum!" sagte sie lächelnd, und sah, wie der Wind in dem grauen Schläfenhaar ihrer Begleiterin spielte. „Eine Lerche!" Die grauen Augen Sophies brannten freundlich, und ihr Körper schwebte gleichsam von der Erde der Musik entgegen, die unsichtbar in der fernen, klaren Höhe erklang. Bisweilen bückte sie sich geschmeidig, pflückte eine Feldblume und streichelte mit ihren zarten, geschwinden Fingern leicht die zitternden Blumenblätter. Und sang dazu etwas Leises und Hübsches. Sie begegneten und überholten Ballern zu Fuß und auf Wagen und riefen: „Grüß Gott!" Die Frühlingssonne brannte: weich schimmerte die blaue Himmelstiefe, zu beiden Seiten des Weges zog sich dunkler Nadelwald hin, die Felder grünten, die Vögel sangen, ein deutlich zu spürender Harzgeruch streichelte warm und zärtlich die Wangen. Alles das zog ihr Herz zu ihrer Begleiterin mit den hellen Augen und der hellen Seele, und die Mutter rückte ihr unwillkürlich näher und bemühte sich, gleichen Schritt mit ihr zu halten. Manchmal kam aber in Sophies» Worten etwas allzu Lautes, Scharfes zum Durchbruch, das der Mutter über- flüssig erschien und in ihr den bangen Gedanken erweckte: „Die wird Michailo nicht gefallen..." Gleich darauf sprach Sophie aber wieder einfach, herzlich, und die Mutter blickte ihr freundlich in die Augen. „Wie sind Sie noch jung!" sagte sie seufzend. „O, ich bin schon zweiunddreißig l" rief Sophie. Frau Wlassow lächelte. „Davon spreche ich nicht... Ihrem Gesicht nach kann «lan sie für älter halten. Sieht man aber in Ihre Augen. hört man Ihnen zu, so wundert man sich. Es kommt einem gerade so vor, als wenn Sie noch ein junges Mädchen wären. Das Leben, das Sic fübren, ist unruhig, schwer und gefährlich, Ihr Herz aber— lacht." „Ich fühle nicht, daß es mir schwer wird und kann mir kein besseres, interessanteres Leben vorstellen... Ich werde Sie— Nilowna nennen; Pelagea— das steht Ihnen nicht." „Nennen Sie mich, wie Sie wollen!" sagte die Mutter nachdenklich.„Ganz wie Sie wollen... Ich sehe Sie immer an, höre Ihnen zu und denke nach... Mir macht es am meisten Vergnügen, wie Ihr alle den Weg zum menschlichen Herzen zu finden wißt. Vor Euch tut sich alles im Menschen
Iohne Scheu und ohne Furcht auf... Ich denke von Euch allen— Ihr besiegt das Böse, Ihr kriegt es sicher unter!" „Wir siegen, weil wir mit den Arbeitern gehen!" sagte z Sophie überzeugt und laut.„Unsere Arbeitskraft, unseren Glauben an den Sieg der Wahrheit nehmen wir vom Volk. ... In ihm sind alle Möglichkeiten enthalten, und mit ihm kann man alles erreichen!... Man muß nur seine Seele, die große Seele des Kindes wecken, das man nicht frei wachsen läßt.. Ihre Rede erweckte im Herzen der Mutter ein viel- fettiges Gefühl— sie fühlte Bedauern mit Sophie und hätte am liebsten andere, einfache Worte von ihr gehört... „Wer belohnt Sie für Ihre Arbeit, für Ihr Mühen?" fragte sie leise und traurig. Sophie antwortete, wie der Mutter schien, mit Stolz: „Wir sind schon belohnt!... Wir haben ein Leben gefunden, das uns befriedigt, ein freies, das alle Geistes- kräfte zur Entfaltung bringt. Was kann man sich mehr wünschen?" Die Mutter blickte sie an und senkte den Kopf, dann dachte sie wieder: „Michailo wird sie nicht gefallen.. In vollen Zügen die süße Lust einatmend, gingen sie nicht schnell, aber doch mit ausgiebigen Schritten, und der Mutter war es, als wenn sie ivallfahrteten. Ihr fiel die Kindheit ein und die freudige Stimmung, in der sie einst zu dem wundertätigen Gottesbild nach einem fernen Kloster ge- pilgert war. Bisweilen sang Sophie halblaut, aber hübsch neue Lieder vom Himmel, von der Liebe oder zitierte Verse über Felder, Wälder und über die Wolga . Die Mutter aber nickte un- willkürlich. In ihrer Brust war es warm, still und nach- denklich, gerade wie in einem kleinen, alten Garten an einem Sommerabcnd. Am dritten Tage kamen sie in daS Dorf an. Die Mutter fragte einen auf dem Felde arbeitenden Bauern, wo die Tee- fabrik sei, und bald stiegen sie einen steilen Waldpfad, auf dem Baumwurzeln als Stufen lagen, zu einenu kleinen, runden, mit Kohlen und Teer übergossencn und mit Holz- spänen bedeckten Platz hinan. „Da sind wir glücklich angelangt!" sagte die Mutter, sich unruhig umblickend. Neben einer Hütte aus Stangen und Zweigen saßen an einem Tisch aus drei ungehobelten Brettern, die auf ein- gerammten Böcken lagen, Rybin, ganz schwarz, in einem auf der Brust aufgeknöpften Hemde, Iefim und noch zwei junge Burschen beim Mittagessen. Rybin bemerkte sie zuerst, legte die Hände an die Augen und wartete schweigend. „Guten Tag, Bruder Michailo!" rief die Mutter schon von weitem. Er stand auf, trat ihnen gemächlich entgegen, blieb, als er sie erkannt hatte, stehen und streichelte seinen Bart mit der dunklen Hand. „Wir sind auf der Wallfahrt!" sagte die Mutter näher tretend.„Da dachte ich. solltest einmal vorsprechen, den Bruder hier besuchen. Das ist meine Freundin, die heißt Anna." Stoz über ihren Einfall schielte sie in Sophiens ernstes, strenges Gesicht. „Guten Tag?" sagte Rybin finster, schüttelte ihr die Hand, verbeugte sich vor Sophie und siihr fort:„Lüg nicht, bist hier nicht in der Stadt, hier wird kein Flunkern verlangt. Sind lauter guter Freunde..." Iefim betrachtete vom Tische aus aufmerksam die Pil» gerinnen und sagte etwas zu den anderen mit leiser, sum- mender Stimme. Als die Frauen an den Tisch herantraten, stand er auf und verbeugte sich schweigend vor ihnen. Seine Kollegen blieben unbeweglich sitzen, als bemerkten sie die Gäste nicht. „Wir leben hier wie die Mönche," sagte Rybin, Frau Wlassow leicht auf die Schulter klopfend.„Niemand kommt zu uns, der Herr ist nicht im Dorf, man hat seine Frau ins Krankenhaus gebracht, und ich bin hier so viel wie ein Ver» Wolter... Setzt Euch... Wellt wohl etwas essen? Iefim, kannst Milch holenl"