Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 215.

8]

Dienstag, den 5. November.

Die Brüder Zemganno.

Bon Edmond de Goncourt .

1907

Stepanida, in unserer Sprache Stephanie, oder, wie man ( Nachbrne verboten.) fie mit dem heimischen Diminutiv ihres Namens nannte: Steucha, war noch sehr jung für eine Frau, die bereits zwei­mal Mutter war, und war schön: von einer wilden Schön­heit, voll hochmütigen Stolzes zu Hause und auf dem Marsch. Ihr reiches, üppiges Haar wölbte sich in dicken, widerspenstigen Strähnen über einem schmalen, lieblichen Obal, einem Oval, von leicht indischem Anstrich. In ihren Augen glühte ein dunkles elektrisches Licht; auf dem bräunlichen Teint des träumerischen Geschöpfes schimmerte unterhalb der Augen eine natürliche, leicht rofige Färbung wie ein leichter Anbauch fort­gewischter Schminke, und auf ihre ernsten Lippen stieg zu­meilen ein Lächeln von unsagbarer Fremdartigkeit empor. Die Eigenartigkeit dieser Schönheit paßte fich aufs trefflichste die blitzende innfolie an, die Kleiderzier von glitzerndem Labn, der Messingtand, der Schmela des Halsbandes von un­ächten Berlen, der Glasbefat; des Diadems von Kramschmud, das Durcheinander von Gold und Silber in dem Flitterstaat von grellen Farben.

Was Tommaso Bescapé betrifft, so war er nach Einkauf des nötigen sachlichen Materials nach Sympheropol gegangen, wo er mit seinem Zirkus brillante Geschäfte machte. Der schlaue Diplomat in unserem Italiener hatte ihn veranlaßt, fich gleich von seinem Eintreffen in Sympheropol an der Offiziere zu bemächtigen und fein Haus gewissermaßen auf ihre Gunst zu bauen, sich in diesen Herren, die er durch seine Riebenswürdigkeit, seinen gewandten Wit, feine luftige Manier, sich liebes Kind zu machen, schnell gewann, die empfehlenden Stammgäste und Kundschaftanwerber seines Unternehmens zu schaffen. So entspann sich eine Geselligkeit des Zusammenlebens und eine Gemeinsamkeit der nächtlichen Bergnügungen, bei denen man das Zigeunerleben aufzu­stöbern pflegte, es lebendig machte, und wo unter dem Um­herreichen von grob mit Früchten bemalten Metallschüsseln boller Backwerd und unter Strömen von Champagner vom Don, Offiziere und Direktor mitsammen bis zur Morgenröte weiften, um dem Tanzen der Zigeunerinnen zuzusehen. Es war in diesen Nächten, wo Tommaso Bescapé, der sein ganzes Leben hindurch sehr verliebter Natur gewesen war, troß seiner geschlagenen fünfzig Jahre sein Herz mit jener heißen Leiden­fchaft an eine junge Bigeunerin bing, welche diese Tänzerinnen von dämonischer Macht einzuflößen pflegen. Die Tänzerin jedoch zeigte gegen den Direktor die doppelte Abneigung eines blühenden jungen Mädchens gegen einen Alten und einer Romna") gegen einen Giorgio. Audotia Roudaf, die Mutter der Tänzerin, die sich als Mittelsperson angegangen fah, hatte überdies ihre Vorurteile hinsichtlich seines Blutes und weigerte fich, ihm ihre Tochter, selbst gegen eine Summe, durch die alles bei dem Teppichhandel und in feiner ersten Saison zu Sympheropol Gewonnene draufging anders au verkaufen als zu einer legitimen Ehe. Bescapé ging darauf ein, und der grauföpfige Gatte war für die junge Frau, die ihn mit unverholenem Widerwillen geheiratet hatte und deren Kälte durch die ganze Dauer ihrer Ehe fortwährte, von einer An­betung befeelt, die an Verzauberung grenzte: die ihn unter den Qualen der Eifersucht sechs Monate nach ihrer Ver­einigung aus der Strim forttrieb, und die ihn, als er Vater geworden, gleichgültig gegen feine Kinder ließ, als ob alle Zärtlichkeit und alle Wärme seines Herzens ganz allein und ungeteilt nur der geliebten Zauberin anzugehören vermöchte. Stepanida weilte, wie man fagen durfte, nur mit dem Körper in dem Kreise der europäischen Truppe und in der Bescapé war mit seiner Gesellschaft nach Italien zurüd- westlichen Welt; ihre Seele, ihr Denken war stets weitab, und gekehrt und von dort fast unverzüglich nach Frankreich ge- ihre großen, stola umherschweifenden Augen richteten fich, ge­gangen, wo er, im Laufe der Jahre Reiter und Pferde all- wiffen Blumen gleich, stets nur gen Often. Ihrem aufge­mählich ausschließend und sein Bersonal auf die bescheidene Zahl reduzierend, wie sie durch die Verminderung der Ein­nahmen und das Anwachsen der Konkurrenz geboten wurde, feit zehn Jahren etwa jährlich neun Monate hindurch Vor­stellungen gab, bei Beginn des Winters aber in sein Vaterland zurückging und während der falten und schlechten Zeit in der Lombardei und Toscana arbeitete.

-

An einen Giorgio", einen Fremden verheiratet- ein seltener Fall bei diesem Wandervolk war die Zigeunerin, den Traditionen ihrer Nasse entsprechend, die sich seit Jahr­hunderten dem Affimilieren mit den europäischen Völker­familien entzogen hat, eine Tochter jener primitiven Wander­ftämme vom Himalaya geblieben, die von Urbeginn her ihr Leben unter freiem Himmel von Diebstahl und der Ausübung einiger Handfertigkeiten gefristet haben. Bei dem Aufhören allen Berkehrs mit den 3brigen, bei ihrer fleischlichen Ber­mischung mit einem Christen, der Gemeinsamkeit all ihrer Reifen mit Leuten aus Frankreich und Italien , hatte sie sich fern von den Ideen, Anschauungen, Lebensgewohnheiten, dem inneren Geist und inneren Leben ihrer Gefährten zu halten gewußt, stets träumerisch in sich selbst zurückgezogen, hart­nädig in ihre Vergangenheit vertieft, in pietätvoller Be wahrung der Liebhabereien, des Fühlens, des Glaubens ihrer geheimnisvollen Vorfahren. Sie stand in einem wunderlichen und unbegreiflichen Verkehr mit einem geheimnisvollen Ober­haupte, einem Priefter- König in unbestimmter Ferne, dessen Berständigung mit seinen Untertanen durch die Vermittelung von Stimmen der Natur stattzufinden schien, und dem sie ihre Verehrung in den Mysterien eines abergläubischen Kultus darbrachte, der durcheinander die Gebräuche aller möglichen Religionen in sich vereinigte, wie sie z. B. nicht selten durch ein Stind Weihwaffer von den Meßnern der Kirchen holen zu laffen pflegte, mit dem sie die Pferde und das Innere ihces Wanderwagens besprengte.

drungenen neuen Vaterlande, ihren zufälligen Umgebungen gehörte sie nur durch ein einziges Band an: eine leidenschaft­liche, fast tierische Mutterliebe für ihren Jüngstgeborenen, ihren schönen fleinen Lionello, dessen Namen sich in ihrem Munde zu dem Schmeichelnamen Nello verkürzt hatte.

Im übrigen, abgesehen von ihrer Mutterliebe, erschien dieses eigenartige weibliche Wesen. mit ihrem naturgemäßen Tommaso Bescapé war kein gewöhnlicher Gaukler. Er Nichtverständnis von Gut und Böse, ihrent unvollständigen batte Kenntnis von einer Unmaise von Dingen, zu denen er, Insaugefaffen des Ausgangs der Dinge und ihrem gleich der Himmel weiß, wie, gekommen; er besaß eine Bufälligkeits- mütigen Sinnehmen aller Geschehnisse um fie ber, wie es bildung, nicht aus Büchern erlernt, sondern aus dem Munde manchen Völkern des Orients eigen ist, als ein Weib, das nur all der zahllosen Persönlichkeiten aller möglichen Nationen angeeignet, die er auf den Straßen oder anderwärts batteur Hälfte aus einem Traum erwacht und fich seiner Existenz in einer realen Welt nicht vollständig sicher ist. ausfragen und zum Plaudern bringen fönnen; er batte biel in einer realen Welt nicht vollständig sicher ist. und auf die verschiedenste Art in dem Buche der Menschheit geblättert. Er besaß ferner ein hübsches komisches Talent, eine regiame burleske Bhantafie. Er erfand drollige kleine Szenen, die sehr unterhielten. Ueberdies in seinen Muße stunden stets in eine Sammlung von Szenerien alter italieni scher Pantomimen berjenkt, wußte er durchaus diesen zuweilen ein sehr hübsches und sehr geschickt behandeltes Material zu

entnehmen,

*) Bezeichnung eines jungen, ihrem Stamm angehörigen Mäbchens bei den Zigeunern, wie Giorgio die Bezeichnung für einen Fremden, einen Nicht- Zigeuner ist. Anm. d. Uebers.

Der ältere Sohn des Direktors der Truppe, Giovanni, oder, wie er genannt wurde: Gianni, zeigte einen Jünglings­förper von jenem Stadium der Jugend, wo sich die Formen der Straft zu gestalten beginnen, die sich bildenden Muskel­wülfte bei jeder Anstrengung, jeder Körperbewegung bemerf bar werden. In seinen Armen schoben sich halb und halb schon die Rundungen von athletischen Biceps- Muskeln hin und her: feine Brüste hoben sich mit dem leichten Hervortreten antifer Basreliefs ab, und auf seinem Rücken ließ jede Bewegung des Oberförpers auf einen Augenblid große, nervige Bänder unter seiner Haut spielen. Er war groß, mit schönen, langen Schenkeln, von der Schönheit eines männlichen Akademie. stückes, jener graziösen und geschmeidiaen Formenbilduna. dia