Nnterhaltungsölatt des Dorwärts Nr. 216. Mittwoch den 6 November. 1907 (Nachdruck verboten.) 4J Die Brüder Zemganno. Von Edmond de Goncourt . Was den zweiten Sohn betraf, so war er jetzt nur noch der Säugling an der Brust, den seine Mutter in ihrer starren und unergründlichen Liebe sich in den Kops gesetzt hatte bis fast zu drei Jahren zu nähren, so daß man den kleinen Burschen von den Kindern, mit denen er spielte, fortlaufen sehen konnte, um zur Mutter zu eilen und von deren Busen seine Nahrung zu saugen und darauf in flottem Laufe wieder zu seinen Spielkameraden zurückzukehren. Der Gipfel der Sanftmut und Harmlosigkeit in der Ge­sellschaft war der Herkules, mit seiner trägen und drolligen Manier, jede überflüssige Bewegung seines Körpers zu sparen. wenn er nicht arbeitete. Man sah ihn stets in vernichterischer Position: die Stühle unter dem Hinsinken seines gewaltigen Körpers zerbrechend und die Bänke unter ihm krachend, auf dem Gesicht ein bißchen des wild Tierischen der Faunen Prolldbons und in seinem gewöhnlich halb geöffneten Munde die Zähne eines Wolfes. Begabt mit einem außergewöhn- liehen Appetit, den nichts vollständig sättigen konnte, erklärte er, nie in seinem ganzen Leben auch nur ein einziges Mal so viel gegessen zu haben, als er mochte, und das machte ihn �melancholisch: der Gedanke an einen Magen, der bestimmt zu sein schien, ewig das Gefühl der Leere zu haben. Den Schädel kahl geschoren, als ob er den Grind häHe, wies der Bajazzo einen jener mittelalterlichen Köpfe auf. wie der Maler Leys deren noch einige in dem ehemaligen öfter- reichischen Brabant als Module für seine Bilder gefunden hat. Man konnte diese Physiognomie als die Züge einer un- vollkommenen, rudimentären Menschenlzaftigkeit bezeichnen, die erst im Begrif sei, sich zu gestalten: Augen, die unter formlose Lider geraten zu sein schienen, eine Nase, die einen Fleischklumpen bildete, ein Mund wie die Oeffnung eines defekten irdenen Gesäßes und ein verschwommenes Embryo- gesicht in grau und schwarzem Teint. Und diese elende Kreatur war heimtückisch, zänkisch, störrig, diebisch aus alles, was man mit sich führte, wie auf die Nahrungsmittel, die man für den folgenden Tag aufbewahrte. Schon zwanzigmal l>ätte man ihn von der Truppe fortgejagt, wäre nicht die Protektion Stepanidas gewesen, die eine stille, eigentümliche Sympathie für diesen Menschen empfand, in welchem sie die bösartigen und diebischen Triebe ihrer Nasse wiedersah. Agapit Coch- regru liebte es, Tiere zu quälen: seine Berührungen dieser und der Mitglieder bei den Paradeumzügen der Gesellschaft suchten wehe zu tun, und sein Spaß auf der Gauklerbühne sogar schien noch ein boshaftes Nachgefühl aller Fußtritte zu atmen, die er als Revanche für zugefügte Schmerzen hinter den Kulissen empfangen. Vor allem>der Herkules war der unglücklich Bevorzugte, den der Bajazzo quälte, schikanierte, mit Teufeleien von jeder Art boshafter Erfindung zur Ver­zweiflung trieb: dabei um so empfindlicher für die Einfalt des starken Menschen zu Werke gehend, als dieser sich nicht zu rächen wagte, weil er fürchten mußte, seinem Quäler mit einem einzigen Schlage den Garaus zu machen. Und ohne Gnade nutzte der Schwache diesen seinen Vorteil über den athletischen Dulder aus. Indes kam es ein paarmal vor. daß Rabastens, wenn seine Geduld vollständig erschöpft war. dem Bajazzo mit der flachen, vorsichtig nur halb in Tätigkeit gesetzten Hand ein mäßiges Kopfstück verabreichte. Dann fing Agapit Cochegru unter dicken Tränen jämmerlich zu heulen an: ein grotesk abschreckendes Bild darbietend in den Grinnnassen seines ent- stellten Gesichtes und in der possenhaften Komik all seiner Bewegungen, welche die Uebung seines ganzen Lebens seinen Gliedern zur zweiten Natur gemacht hatte. Bald darauf aber nestelte er sich in geheuchelter Reue wieder dicht an feinen Feind, um in schlauer Manier einer Wiederholung des Patsches vorzubeugen, fiel ihm um den Hals, nannte ihngroßer dicker Latsch", wurde dabei nicht müde, ihm lästige kleine Rippenstöße mit den Ellbogen in die Seite zu versetzen, und war nicht loszuwerden von dem Halse, an dem er eine Ewig- keit hing greinend und mit einer Rotznase. Der Posaunist war ein armer Teufel, der in der tiefsten Msere eines untergeordneten Handwerkers der musikalischen Kunst lebte und dessen kühnste Wünsche sich bei seiner kärg- lichen Besoldung nicht über die Eroberung jeweilig einer kleinen Tasse Kaffee mit einem kleinen Likör dazu erhoben. Ihre Erlangung tvar der höchste Gipfel seines Strebcns. Und dieser Künstler im jämmerlichsten Elende, dessen äußere Erscheinung zusammengesetzt war aus Hemdenmangel und einer Toilette von Kleidungsstücken mit mehr Fettfleaen als Ueberbleibseln der ehemaligen Wolle auf dem Tuch, und mit Schuhen an den Füßen, deren vorn losgelöste und bei jedem Schritt klaffende Sohlen ihm das Ansehen gaben, als schreite er in Haifischrachen einher: dieser.Mann war glücklich! Er lebte in innigem Freundschaftsverhältnis mit einem Wesen. das er liebte, das ihm mit Gegenliebe vergalt und ihn alles vergessen ließ mit Ausnahme der schwarzen Bosheiten des Bajazzos. Der Freund des Posaunisten tvar die Pudelhündin der Gesellschaft, ein armes krankes Tier, das infolge eineS Leidens, wie es ganz ähnlich auch menschliche Köpfe befällt, an jeweiligem Verlust deS Gedächtnisses litt, so daß man zil solchen Zeiten auf die Vorführung der Dressurstückäien vcr- zichten mußte, welche das intelligente Tier sonst auszuführen pflegte: und der Posaunist, der durch Freundschastsbezeugungen von seinesgleichen beiderlei Geschlechts sehr wenig verwöhnt war. hatte zu der armen Hündin, die jetzt fast beständig krank war. solche Zuneigung gefaßt, daß. wenn er an ihren ent- zündeten Augen erkannte, daß sie sich leidend befand, er auf seine heißerschnte Tasse Kaffee verzichtete, zu der er sich das Geld Sou für Sou in einer Reihe von Tagen erspart hatte, und statt dessen dem kranken Tier ein Abführungsmittel kaufte. Und hieraus freilich nicht aus dem Abführupgs- mittel, welches Lariflette durchaus nicht liebte, aber aus all der Liebe und Sorgfalt, mit dL.nen der Posaunist diese Kuren begleitete entsprang die Dankbarkeit, welche die kranke Hündin gegen ihren Wohltäter zeigte: in Blicken, in tvelche sie alles legte, Was an Zärtlichkeit in dem Auge eines Tieres liegen kann und sogar durch ein fmmdliches Lachen, das alle ihre Zähne sehen ließ. Jawohl, durch ein Lachen: denn diese Hündin lachte in der Tat! Die ganze Truppe Wäre bereit gewesen, dieses Faktum vor Gericht eidlich zu erhärten, nachdem sie einmal Zeuge von der Sache gewesen tvar. Eines Morgens war der Posaunist beschäftigt, au feinem kleinen Kochapparat am Fußboden irgend etwas in einer Pfanne zu erwärmen, die unserer Lariflette nur zu wohl bekannt war, während die Hündin in der Näl)e stand, den Schwanz gesenkt, in mürrischer, aber resignierter Haltung. Das Tier sah das rauchende Gebräu vom Feuer fortgcnommen Werden, sah es in einen kleinen Topf gegossen und mit einem hölzernen Löffel tüchtig umgerührt werden, dann, zu seinem höchsten Er- staunen, sah der Pudel den gcfürchtcten Topf ihm an der Nase vorübergehen, in die Höhe gehoben werden und an dem Munde des Posaunisten anlangen, in welchem sein Inhalt verschwand. In diesem Moment, wo Lariflette die Gewißheit erlangte, daß das wohlbekannte Dekokt, welches ihr Leibschmerzen zu machen pflegte, in den Magen ihres guten Freundes und nicht in den ihrigen seinen Weg nahm, trat auf das Gesicht des Hundes das vergnügteste und drolligste lautlose Lachen, daS sich auf irgend einem menschlichen Gesicht hätte zeigen können. DieKopfnuß" verdankte ihren Svitznamen einer Jugend» zeit, die aus einer fortgesetzten Aufeinanderfolge von Miß» Handlungen und Schlägen bestanden hatte. Im Alter von sieben Jahren obdachlos in den Straßen von Paris aufge- griffen, gab sie dem Gcrichtsvorsitzendcn, der sie vernahm, die Auskunft:Mein Vater und meine Mutter, mein Herr, sind tot, an der Cholera gestorben... Großvater hat mich in ein Armenhaus gebracht... acht Tage nach meinem Vater und meiner Mutter ist er auch gestorben... Tann bin ich nach Paris gegangen, wo ich mich in den Straßen verlaufen habe, weil es gar so groß ist..." Sie war jetzt eine Frau von achtundzwanzig Jahren, mit lohfarbenem Gesicht, lohfarbcnen Armen, tiefdunkel bis ober» l)alb der Ellbogen und mit weißem Jmpfmal auf dem Ober» arm. Beständig in eine rosa Tarlatanrobe gekleidet, dte mit eingestickten Guirlanden verziert war und durch einen Gürtel zusammengehalten wurde, der. sich auf der Maae""''"!'? nach oben und nach unten zu einem verschobenen Viereck ver- breiternd, aufgeklebte rote kabbalistische Figuren als Schmuck aufwies, zeigte dieKopfnuß" unter einem vollen Busen eine Taille von ungewöhnlicher Schmalheit und in ihrem ganzen