Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 222.

Donnerstag den 14 November.

( Nachdrud verboten.)

101 Die Brüder Zemganno.

Von Edmond de Goncourt  .

Die Jahre vergingen, und fort und fort zog die Truppe in Frankreich   umher, die bewohnten Ortschaften nur be­rührend, um ihre Vorstellungen zu geben, und unmittelbar darauf wieder zu dem Kampieren unter dem Dach des freien Himmels zurückkehrend, das sich über ihre Wanderwagen wölbte.

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1907

Vögel über sich;- das Gesicht in dem Blütenmeer und den balsamischen Düften des üppigen Pflanzenwuchses rings um her zu vergraben, der seine Knospen der Mittagssonne er schlossen sich zu vergnügen mit dem Erhaschen eines Tier­chens der Wiese oder des Waldes, das man für einen Augen­blick in der geschlossenen Hand gefangen hält- zu liegen und, wie Chateaubriand sagt: sich die blaue Ferne in den Mund scheinen zu lassen in der Glut der Sommersonne über einen Hasen zu lachen, der beschäftigt ist, in der Furche eines Ackerfeldes Männchen zu machen, und in der Melancholie eines herbstlichen Waldes, wenn welke Blätter unter den Schritten des Dahinwandelnden rascheln, gemächlich zu schwatzen; das wollüftige Dahinfinken in träumerischer Einsamkeit zu genießen, diesen stillen, in innerster Brust ver­schlossenen Rausch des Menschen von einer gewissen Ursprüng­lichkeit, der in sympathischem Kontakt mit der Natur steht,- kurz mit allen Sinnen, allen Fibern ihres Körpers dem Ge nüge zu tun, was Lig das Sentiment des Bohemien" nennt,

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Bald waren sie in Flandern  , am Fuße seiner schwarzen Hügel von Schlacken und Asche der Steinkohle, in jenen flachen Landstrichen mit den schläfrigen Flüssen und der auf allen Seiten von hohen rauchenden Biegelschornsteinen durch brochenen Perspektive. Bald waren sie im Elsaß unter den Trümmern eines alten Schlosses, das die Natur sich wieder­erobert hatte und welches nun Mauern von Stein und solche bon wilden Levkoyen und anderen Blumen hatte, die nur auf Ruinen blühen. Dann wieder waren sie in der Normandie  , An gewissen Tagen nahm Stepanida ihren Sohn, so diesem großen Obstgarten von Apfelbäumen, in der Nachbar- groß er auch schon war, auf ihren Arm, drückte ihn an die schaft eines Pachthofes mit bemoostem Dach, am Ufer eines Brust, eilte mit ihm, wie ein Tier, das sein Junges trägt, Baches, der murmelnd durch den hohen Rasen eines Gras- in die Einsamkeit, vergrub sich mit ihm tief in ein Dickicht landes dahinfloß. Dann waren sie in der Bretagne  , ant des Waldes, und legte ihn, wenn sie sich rings ganz umgeben flachen fieselreichen Strande, zwischen grauen Felsen, das un- von einer Mauer von Zweigen, einen dichten Verschluß von begrenzte Schwarz des Ozeans vor sich. Dann in Lothringen  , Laubwerk sah, feuchend, außer Atem von der Anstrengung, an der Lifière eines Waldes, auf einem alten Meilerplatz, auf das Gras nieder. Dann, während ihr Busen, ihre Pulse umtönt von dem Schallen der Alerte in fernen Holzschlägen, noch flogen, kniete sie in dem natürlichen Versteck, fern von und dicht bei einer Schlucht, von welcher in der Weihnachts­nacht die Wilde Jagd" ausgeht, geführt von dem Großen Jäger im Feuerwams. Dann waren sie in Touraine  , an einer Schleuse der Loire   längs eines aufsteigenden Berg­hanges, auf dem sich etagenförmig übereinander muntere Häuschen im Gehäge von Weinstöcken und Spalieren erhoben, an denen die herrlichsten Früchte der Welt reiften. Dana Litanei, aus dem Munde der Mutter, die sich über ihren wieder in der Dauphiné, inmitten einer Tannenlandschaft, die sich gegen eine nahe Schneidemühle hin in dem Schaum des Wassersturzes und der hüpfenden kleinen Kaskaden ver­lief, welche die Forellen hinaufschwammen. Dann in der Auvergne, über Schluchten und Abgründen, zwischen Baum­Stümpfen, deren Stämme der Sturm umgebrochen, unter dem Heulen der Nordwinde und dem Kreischen der Geier. Dann in der Provence  , am Fuß einer alten Mauer, die unter dem Wachstum eines aus ihr hervorsprießenden mächtigen Oleanderstammes geborsten war und gefurcht von den Striech spuren der Eidechsen, mit dem sternengelichteten Dunkel eines großen Weinberges über ihnen und dem Fernblick auf eine rotgeld schimmernde Anhöhe am Horizont, die eine Billa   aus Marmor trug, vor sich.

Wieder ein anderes Mal lagerte die Truppe in einem Hohlwege in Berri; dann am Fuße eines der kreuzgeschmückten Hügelchen von Anjou; ein anderes Mal sammelte sie die Früchte eines Kastanienwaldes in Limousin, ein anderes Mal machte sie Jagd auf die Ringelnattern einer Heide in der Gascogne; jezt lenkte sie ihre Wagen auf einem bergigen Wege der Franche- Comté   dahin, dann wieder längs eines Wasserlaufes der Pyrenäen  ; dann, zur Zeit der Weinlese, zwischen den weißen, mit Reben geschmückten Rindern von Languedoc  .

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In diesem beständigen Wanderleben, zu allen ver­schiedenen Jahreszeiten, all die verschiedenen Szenerien und Gegenden hindurch, war es dem vagierenden Bölkchen ver­gönnt, stets die weite Welt vor sich zu haben, stets unter dem reinen Licht des Himmels zu sein, stets in freier Luft zu atmen: in einer Luft, die über duftige Gräser und würzige Kräuter zu ihnen wehte, jeden Morgen und jeden Abend ihre Augen an dem Schauspiel einer neuen Morgenröte, eines neuen Abendgoldes zu berauschen; ihr Ohr zu erfüllen mit den Klängen der Natur, mit dem harmonischen Rauschen der Waldeswipfel, dem melodischen Flüstern der Winde in Schilf; sich mit wildem Vergnügen dem Anblick des Sturmes, des Orfans, des Gewitterwütens, des Tobens und Kämpfens der Elemente hinzugeben;- unter grünen Hecken zu speisen aus der Frische der Quellen zu trinken- im weichen, schwellenden Grase zu ruhen, mit dem Gesange der

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aller Welt, an Nellos Seite hin, beide Hände auf den Boden gestützt, den Körper fast in der Haltung des liebevollen Nieder­fauerns eines Muttertieres neben seinem Jungen, und küßte den Knaben leidenschaftlich, mit einem seltsamen Blick, der das Kind beunruhigte, welches zu verstehen suchte und nicht berstand. Dabei ertönte es leise, wie eine gemurmelte Jüngstgeborenen gebeugt:

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Armes geliebtes Kind! Armes angebetetes Kind! Armes teures Herz!

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Und in der Stille und dem tiefen Frieden ringsumher flangen die zärtlichen Burufe noch lange fort in einer Art von klagendem Sprechgesange, in welchem ein gebrochenes Herz zu weinen schien. Und unaufhörlich kehrte das Wort arm" wieder: dieses Beiwort, welches die Mütter und die Liebenden unter den Bahemiens, die stets in Sorge wegen der Zukunft der Wesen sind, die sie lieben, den Roseworten ihrer Bärtlichkeit fast ausnahmslos hinzufügen.

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Seit langer, langer Zeit welfte die Mutter, die noch so junge Mutter Nellos allmählig dahin. Was war ihr Leiden? Man wußte es nicht! Vielleicht war es die Krankheit der Blumen, die man von fern her in ein Land und unter einen Himmel verpflanzt hat, wo sie verurteilt sind, jung zu sterben. Die Tochter des Zigeunerstammes flagte über nichts als über Stühle, die sie empfinde, eine Stühle in ihrem Gebein, die sie nicht von sich zu scheuchen vermochte, und die selbst im Sommer, unter allen Tüchern, in welche sie sich hüllte, jähe nervöse Schauer über ihren Körper laufen ließ. Bergeblich bereitete ihr die Kopfnuß" die Säfte von Kräutern, die sie längs der Wege gepflückt und welche sie, wie sie sagte, neu erwärmen würden; vergeblich bemühte sich ihr Gatte, sie zu bestimmen, in den Orten, in denen man Borstellungen gab, die Hülfe eines Arztes in Anspruch zu nehmen; sie verweigerte alles mit einer mürrischen, dumpfen Erregtheit und nahm nach wie vor an den Beschwerden aller teil, immer bleicher werdend im Gesicht und mit Augen, die immer größer wurden.

Eines Tages indessen war sie nicht mehr imstande, bis zum Schluß an ihrem kleinen Lisch am Eingange zu ver­bleiben und die Entrees einzunehmen. Und am anderen Tage erhob sie sich nicht von dem Bett, sondern suchte sie ihre Umgebung mit der Erklärung zu beruhigen, daß sie am nächsten Tage wieder aufstehen werde. Aber sie erhob sich auch an diesem nächsten Tage nicht von ihrem Lager, noch