Anterhaltungsblatt des Vorwärts

Nr. 225.

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Dienstag. den 19 November.

Mahdruck verboten.)

13 Die Brüder Zemganno.

Von Edmond de Goncourt

1907

wurde. Stets aber ging der Herkules als Sieger aus dem Stampf hervor: nicht sowohl deshalb, weil er just der stärkste Mensch der Welt gewesen wäre, sondern weil sich zu seiner Stärke auch noch die große Geübtheit in dem Kampf und die genaue Kenntnis aller Kunstgriffe und geheimen Hülfsmitteb desselben gesellte. Eines Tages indessen wurde der unwerf bare Rabastens dennoch geworfen, regelrecht, so daß er mit Das Umberziehen der Maringotte durch die Provinzen beiden Schultern den Boden berührte: von einem Müller in Frankreichs währte unter der Direktion des Sohnes fort, a Breffe, einem Manne, der nach dem Urteil aller durchaus aber ohne den Erfolg und die guten Einnahmen unter der schwächer war als der Herkules . Inmitten der größten Ver­Leitung des alten Italieners. Die Vorstellungen, welche fich blüfftheit der ganzen Gesellschaft über seine schmähliche Nieder­jekt auf die Bentner- Produktionen des Herkules, auf den lage, inmitten ihrer höchsten Bestürzung, erhob sich plötzlichy Drahtseiltanz der Kopfnuß", das Trapez und die Equilibre- die boshafte, grelle Stimme des Baiazzos, die dem sich vom tünste Giannis nebst den Sprüngen des kleinen Nello be- Boden erhebenden Athleten zuschrie: das komme davon, daß fchränkten, entbehrten des Zugmittels der Pantomimen, die er fich zu viel mit einem unflätigen Weibe abgebe, welche er Eine sonst den effektvollen Schluß des Abends gebildet und für das in der Nacht, die dem Kampfe borangegangen... Publikum der kleinen Ortschaften ohne Theater die Anzieh- ungeheure Ohrfeige machte, daß der Bajazzo nicht ausredete. ungskraft eines wirklichen Bühnenstüdes gehabt hatten. Bu- und ließ ihn in den Sand rollen. dem hatte das Personal der Truppe, allmählich alt werdend, Aber der Bajazzo hatte die Wahrheit gesagt. Der Her an rüftiger Berbe, an heiligem Stunftfeuer für ihre Leistungen fules, der bisher nur in Nahrungsmittel verliebt gewesen, verloren. Der Bajazzo war sparsam mit seinen Späßen ge- war seit einiger Zeit von Bärtlichkeit zu einer Dejanira ent­worden. Der Herkules , von seiner Verpflegung fegt weniger brannt, die er als seine Geliebte mit sich führte und welcher befriedigt als früher, war noch träger als sonst, wenn es fich er in der Tat einen großen Teil seiner Kraft zum Opfer zu bewegen galt. Der Posaunist, der das Asthma bekommen hatte, blies fein Instrument nur noch so um Gotteswillen". Die Parade auf der Außenbühne wurde matt, die große Bauke schien einschlafen zu wollen und der Flitterschmud in der Bude erblindete. Nur die Kopfnuß" allein von den Mitgliedern der Gesellschaft strebte noch mit einer gewiffen niedergeschlagenen Ergebenheit und einer Art troytgen Eifers aus allen ihren Kräften gegen das Mißgeschid der beiden Brüder an.

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Einige Jahre gingen dahin, in denen der alte Tommaso Bescapé starb, die Geschäfte der Gesellschaft mehr als mittel­mäßig und die Aufgabe, die Mitglieder in Ordnung zu halten, täglich schwieriger wurden. Cyprien Muguet, der asthmatische Posaunist, war, nachdem Lariflette das Zeitliche gefegnet, ein Erztrunkenbold geworden. Der Bajazzo verursachte Gianni tausendfachen Aerger durch verwüstete Weidengebüsche, Dornensträucher und Birnenbäume an den Wegen entlang, auf denen die Karawane dahinzog. Denn der Bajazzo füllte feine Mußezeit mit Flechten von Körben und Schnißen von Stöcken und Pfeifen aus, welche Stunstwerke aus denen so etwas wie die Erinnerung an eine im Bagno erlernte Stunftfertigkeit berborblickte- er dann in den Zwischenpausen der Vorstellung für seine eigene Rechnung an das Publikum verkaufte. Ganz fürzlich erst hatte Gianni ein fehr unange­nehmes Begegnis mit dem Befiber eines Birkenwaldes ge­habt, einem Edelmann, der fich aus Liebhaberei mt Taschen­spielerkunststücken beschäftigte und die ganze Truppe während breier Tage als Gäste in seinem Schloß aufgenommen hatte. Und richtig hatte derselbe nach ihrem Fortzuge feine schönsten Birken um ihre Rinde geplündert finden müssen, mit der sich der Bajazzo versehen, um Schnupftabaksdosen daraus zu machen. Während bei dem Aerger über solche Dinge in der Brust des jungen Direktors die ihm angeborene Rechtschaffen­heit in stetem Streit mit seiner Gutmütigkeit lag, die ihn abhielt, einen alten Gefährten fortzujagen, mit dem er seit seiner Kindheit her gelebt, und während Aergerlichkeiten aller Art ihm jeden Tag neue Abneigung gegen die jeßige Art seines Künstlerlebens einflößte, trat ein Ereignis ein, das bon größtem Nachteil für das Renommee und die Einnahmen des Arenatheaters Bescapé war. Eine der ergiebigsten Ge­minnquellen der letzten Jahre verdankte man dem Herkules. Es geschah nicht selten in den Marktflecken und Dörfern, in denen man Vorstellungen gab, daß der stärkste Mann des Ortes sich versucht fühlte oder durch andere zu dem Versuch bestimmt wurde, sich mit dem Herkules im Ringkampf zu messen. In solchem Fall pflegte eine Wette zwischen der Bescapéschen Arena und dem starken Dilettanten, der ge­wöhnlich der Müller des Ortes war, um den Preis von 100, 200, oft 300 Frank entriert zu werden, wer von beiden Kämpfern den anderen werfen werde, wobei bald der Gegner des Herkules das Geld einsette, bald es von Landsleuten desselben, deren Lokalpatriotismus fie für seinen Sieg in Feuer brachte, zusammengeschoffen und gemeinsam eingesetzt

brachte. Das Traurigfte für den Herkules und für die Truppe war bei der Sache, daß der Vorfall vollständig das Bewußtsein seiner Ueberlegenheit in dem Athleten ertötete, der noch zwei- oder dreimal rang, fich werfen ließ und von da an, mutlos und der melancholischen Ueberzeugung hinge geben, daß ein Bauber feine Stärke vernichtet habe, durch nichts mehr zu bewegen war, fich mit irgend jemandem bei den Hüften zu faffen, und wäre es mit einem Schwächling wie ein Gedankenstrich gewesen

Gianni hatte Nello anfangs, als er noch ganz klein war, bei einigen seiner Produktionen mit verwendet, einerseits zum Vergnügen für den Kleinen, andererseits um ihm Mut zu machen und Luft und Wetteifer für die Künfte in ihm wach­zurufen. Später zeigte der Knabe überall ein so eifriges Berlangen, bei allem, was der Bruder ausführte, mit diesem zu wirken, daß Gianni ihn nach und nach in beinahe alle seine Produktionen mit verflochten hatte, und es war in den letzten Jahren, in denen Nello zum Jüngling geworden, allmählich dahin gekommen, daß Gianni vom Alleinarbeiten ganz ent­wöhnt worden war, er sich in seiner Arbeit verlassen, fremd gefühlt haben würde, wenn er Nello nicht dabei an seiner Seite gesehen. Wenn Gianni jest jonglierte, jonglierte Nello, auf seinen Schultern stehend, gleichfalls, und dieser Ueberein­anderbau zweier Jongleure, die, gemeinsam arbeitend, gleich­sam nur einen bildeten, führte zu den hübschesten Touren mit den fliegenden Kugeln, zu neuen, überraschenden Wechsel­spielen, Doppelspielen, Gegenspielen usw. Am Trapez machte Nello das nach, was Gianni zuvor gemacht, ich wie ein Trabant in dem Planetenkreise seines Bruders um ihn be wegend, bald mit ihm wirbelnd in blitzschneller Drehung, bald ihm folgend in der langsamen, gleichsam schwebenden Be­wegung, in welcher der sausende Schwung allmählich erstarb. In neuen Produktionen, welche der ältere Bruder mit ihm eingeübt, um den kleinen Gymnastiker in Szene zu seßen", ließ Gianni, auf dem Rücken liegend, die Beine empor­gestreckt, denselben in allen möglichen Touren auf seinen Füßen wirbeln, ihn mit diesen ergreifend, emporwerfend, wieder auffangend, so daß die Füße in diesem Augenblic in Hände verwandelt schienen, mit deren Gewandtheit, deren Fingern begabt. Es gab ferner andere gemeinsame, die Auf­gabe aufs genaufte zwischen beiden teilende Produktionen, bei denen ihre Kräfte, ihre Kunstfertigkeit, ihre Behendigkeit fich vereinigte und ineinander griff, und bei denen eine einzige Sekunde des Mangels der genauesten Uebereinstimmung ihrer Bewegungen, der minutiösesten Berechnung des ein­ander Berührens, für einen von ihnen, ja für alle beide zum Berhängnis werden konnte. Allein es herrschte ein so boll­ständiges physisches Einverständnis zwischen beiden Brüdern, daß die Uebertragung des Willens auf die Biegmusfeln, die Stredmuskeln, ihre Sehnen und Gelenke, die zur Hervor. bringung einer Bewegung im Körper erforderlich ist, zu einer einzigen und gemeinsamen für beide Körper bereinigt schien,